Achtsamkeit in die sozialen Berufe integrieren

Das Münchner Modell integriert seit 2010 Achtsamkeit und Meditation in den Bereichen Soziale Arbeit, Pflege, Bildung und Erziehung. Die Studierenden sind eingeladen, sich selbst besser kennenzulernen und herauszufinden, welchen Beitrag zur Gesellschaft sie bringen möchten.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

„Meditation ist eine besondere Art der Geistesschulung, ganz anders als der intellektuelle Wissenserwerb“, sagt Professor Andreas de Bruin. Er brachte 2010 Meditation und Achtsamkeit an die Hochschule München und die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. In den letzten elf Jahren hat sich das Münchner Modell „Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext“ mit über 2300 teilnehmenden Studierenden erfolgreich weiterentwickelt.

„Als wir im März 2010 die erste Lehrveranstaltung anboten, bewarben sich im Studiengang „Soziale Arbeit“ auf 15 Plätze 65 Personen – das Münchner Modell startete also gleich einer Warteliste. Durch das Einbringen von Achtsamkeit und Meditation als reguläres Fach in Studiengänge wie etwa Soziale Arbeit, Pflege, Schulpädagogik sowie Bildung und Erziehung im Kindesalter wollte ich es den Studierenden in erster Linie ermöglichen, näher zu sich selbst zu kommen, zur eigenen Inspiration, Kreativität und der Verbindung zum inneren Kern“, so de Bruin.

Durch diese Verbindung zum eigenen Inneren können die Studierenden spüren, wer sie sind, was sie werden möchten und welchen Beitrag zur Gesellschaft sie einbringen mögen. Eine weitere lohnende Wirkung ist, dass sie auch über die eigenen späteren Berufe mithelfen, Achtsamkeit und Meditation in die Gesellschaft zu integrieren.

Body Scan mit Studierenden: Prof. Dr. Andreas de Bruin bietet Achtsamkeit und Meditation als bewertete Seminarleistung an

Meditieren im Hörsaal

Im Praxisteil der Lehrveranstaltungen lernen die Studierenden Achtsamkeits- und Meditationsübungen wie zum Beispiel den Body Scan oder die Sitz- und Gehmeditation. Im Theorieteil werden Hintergründe zur Herkunft verschiedener Meditationsformen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse zu Achtsamkeit und Meditation vermittelt.

Benotet wird die Leistung der Studierenden aufgrund von Präsenz, aktiver Mitarbeit, dem Führen eines persönlichen Meditationstagebuchs und einer schriftlichen Reflexion darüber, wie Achtsamkeit und Meditation im späteren beruflichen Handlungsfeld sinnvoll angeboten werden können.

Mittlerweile nehmen pro Semester über 150 Studierende aus 24 Studiengängen teil. 86,1 Prozent der befragten Studierenden gaben nach dem Kurs an, dass sie die Angebote sehr sinnvoll finden und man mehr davon anbieten solle.

Das Erlernte weitertragen

Bereits 95 Studierende haben ihr Abschlussthema im Zusammenhang mit Achtsamkeit und Meditation gewählt, zum Beispiel Achtsamkeit als Hilfe für Schüler:nnen mit Prüfungsangst oder Achtsamkeit im Kindergarten.

Es gibt Arbeiten über die Behandlung von Traumata durch Achtsamkeit, ihre Bedeutung für die Resilienz bei Kindern in Notsituationen oder wie sich Achtsamkeits- und Meditationsangebote in Gefängnissen implementieren lassen.

So entsteht eine direkte Auswirkung auf die Gesellschaft: das Erlernte wird in die verschiedenen Handlungsfelder weitergetragen, zum Beispiel in Kindergärten, Schulen und Pflege. „Besonders in der Arbeit mit Menschen hat die vertiefte Kommunikation, die aus einer achtsamen Haltung entstehen kann, bedeutsame Wirkung“, so de Bruin

In der Arbeit mit den Studierenden hat de Bruin gelernt, wie wichtig es bei der praktischen Anwendung ist, dass man die klassischen Achtsamkeits- und Meditationsübungen auf die Zielgruppe anpasst.

Einen Bodyscan kann man mit Kindern z. B. nicht so „abstrakt“ durchführen wie mit Erwachsenen. Besser ist es, man erzählt dazu eine Fantasiegeschichte oder lässt ein Kuscheltier „mitspielen“.

Oder wenn man mit verhaltensoriginellen jungen Menschen arbeiten möchte, die vielleicht auch aggressiv sind, dann muss man aus der Perspektive ihrer Lebenswelt erklären. Hilfreich ist es dabei, Jugendlichen zu erzählen, welche Popstars oder berühmte Sportlerinnen und Sportler auch meditieren.

Ein anderer Zugang kann auch über Filme geschaffen werden, z.B. einer über Gefängnisinsassen, die Meditation praktizieren und über ihre Erfahrungen damit berichten.

Wichtig ist für de Bruin, dass die Studierenden in ihrem Handlungsfeld authentisch sind. Dazu müssen sie die Übungen selbst praktizieren und ihre Wirkung verstehen.

Auch sind für ihn die Abschlussarbeiten und die damit einhergehenden Implementierungsvorschläge der Studierenden eine Bereicherung: „Bei allen diesen Initiativen lerne ich natürlich auch dazu, denn die jungen Menschen haben oft tolle Ideen, weil sie so nah mit ihrer Zielgruppe arbeiten. Man sieht schon, wir haben in der Gesellschaft sehr viele Möglichkeiten, Achtsamkeit und Meditation sinnvoll anzuwenden.“

Foto Meditation Münchner Modell
Studierende können das, was sie durch Achtsamkeit gerlernt haben, später in ihr Berufsfeld einbringen

Studierende werden Achtsamkeitslehrer:innen

Einige Studierende sind im Rahmen des Münchner Modells auch schon Lehrbeauftragte geworden. Das heißt, sie übernehmen selbst Kurse in Achtsamkeit und Meditation. Sie waren in den ersten Jahren in den Kursen und haben sich dann aus eigenem Impuls über Fortbildungen an anerkannten Achtsamkeits- und Meditationsinstitutionen sowie Meditations-Retreats weitergebildet.

Eine der Studentinnen, die an den Achtsamkeits- und Meditationslehrveranstaltungen teilgenommen hat, durchlief weitere externe Fortbildungen vor allem im Bereich Mitgefühl. Jetzt bietet sie bereits seit zwei Jahren einen Kurs zum Thema „Mitgefühl in der sozialen Arbeit“ an. Sie unterrichtet damit ein Fach, dass sie selbst geschaffen hat.

Neue Kooperationen und Anwendungsfelder

Das Münchner Modell ist ein Organismus, der natürlich wächst. Im Wintersemester 2021/22 beginnt auch eine Zusammenarbeit mit der Technischen Universität München, dann ist das Modell an den drei großen Hochschulen in München verankert.

Zudem gibt es ein großes Netzwerk aus weiteren Hochschulen auf nationaler und internationaler Ebene, aus zahlreichen Bildungsinstitutionen im Münchner Raum und auch aus den Alumni, die ihre beruflichen Erfahrungen in das Münchner Modell hineintragen.

Andreas de Bruin ist immer offen für neue Anwendungsformen für Achtsamkeit und Meditation. Seit Ende 2020 arbeitet er mit dem Kreisjugendring München-Land zusammen, um gemeinsam passende Ansätze in der offenen Kinder- und Jugendarbeit zu entwickeln.

In Nürnberg gibt es eine Kooperation mit Kindergärten, in denen jeweils die Hälfte der Kinder hochbegabt ist. Hier wird Achtsamkeit ganz bewusst in das pädagogische Konzept eingeführt.

Für Andreas de Bruin hat sich auch sein Selbstverständnis als Pädagoge verändert. Er sagt: „Das Wichtigste ist, einen Raum mit den Studierenden zu kreieren, wo wir uns begegnen können, ohne uns zu sehr von unseren Konditionierungen beeinflussen zu lassen. Entscheidend dabei ist eine Atmosphäre des Vertrauens, der Ehrlichkeit.

Ebenso dürfen eine gewisse Leichtigkeit und der Humor nicht fehlen. Mein Wissen vermittle ich im Dialog mit den Studierenden. Wir erforschen die Themen gemeinsam. Ich nehme die Studierenden auf dem Weg mit, und sie nehmen mich mit.“

Mit diesem dialogischen Lehrstil hat er in den vergangenen elf Jahren vielen Studierenden Achtsamkeit und Meditation nahegebracht und mit ihnen erforscht, wie diese Übungen in verschiedensten Bereichen angewandt werden können, um den Menschen zu unterstützen, sich mehr mit sich selbst zu verbinden.

Mike Kauschke

 

Weitere Informationen

Auf ethik heute finden Sie ein weiteres, interessantes Interview mit Andreas de Bruin: „Meditation and Art“ ist ein Projekt von Prof. Andreas de Bruin. Er geht mit Studierenden ins Museum, um über Achtsamkeit einen tieferen Zugang zu den Werken und den Künstlern zu ermöglichen. De Bruin erklärt im Interview die vier Schritte seiner Methode und wie über Kunst und Meditation eine tiefere Wahrnehmung entstehen kann.“ Hier kommen Sie zum Interview.

Mehr Infos zum Münchner Modell

Link zur offiziellen Seite des Münchner Modells.

Link zum Film über das Münchner Modell.

Das aktuelle Buch von Andreas de Bruin gibt es kostenfrei als Download beim Transcript Verlag unter diesen Links:

Arbeitsbuch zu Achtsamkeit im Hochschulkontext

Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Mehr über ihn und seine Arbeit finden Sie auf seiner Seite.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Gehmeditation an der Münchner Hochschule: Marco Gierschewski
  • Bodyscan: Marco Gierschewski
  • Meditation: Marco Gierschewski
  • Mike Kauschke: privat