Foto Lehrer mit Schüler:innen

Achtsamkeit als Teil der DNA von Schule

Sozial-emotionales Lernen (SEL) ist entscheidend für den Lernerfolg, das belegen wissenschaftliche Studien. Achtsamkeit ist eine zentrale Kompetenz für SEL, sagt Bildungswissenschaftler Karlheinz Valtl und plädiert für ihre Integration in der Regelschule.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das Interview führte Birgit Stratmann

Sie unterrichten am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien. Welche Themen liegen Ihnen hier besonders am Herzen?

Karlheinz Valtl: Zunächst geht es darum, das Grundverständnis von Pädagogik zu transformieren. Denn alle, die ein Lehramtsstudium beginnen, haben durch ihre eigene Schulzeit ein fixes Bild vom Lehrerberuf. Junge Lehrer*innen unterrichten so, wie sie selbst unterrichtet wurden. Das ist ein großes Hindernis für Innovation im Bildungswesen.

Ein anderes Feld ist die Persönlichkeitsbildung, junge Menschen brauchen hierfür Impulse. Sie wollen Kontakt zu tieferen Erfahrungsschichten bekommen, denn nur hier können sie erkennen: Was will ich wirklich? Was sind meine Ziele? Wofür will ich meine Kraft einsetzen? Und hier sind wir beim Thema Achtsamkeit.

In der Achtsamkeit spiegeln sich grundlegende Themen der Pädagogik und Lehrerbildung wie Selbstreflexion, Diskursfähigkeit, Kollegialität. Achtsamkeit wird in all diesen Bereichen gebraucht. Sie ist zentral für die Persönlichkeitsentwicklung und die Professionalisierung der Lehrkräfte. Doch im normalen akademischen Alltag hat Achtsamkeit bisher keinen Platz.

Sie sprechen von „Pädagogik der Achtsamkeit“, was meinen Sie damit?

Valtl: Mir geht es dabei um eine grundsätzliche Neuausrichtung der Pädagogik hin zu Persönlichkeitsentwicklung, innerem Wissen und einem vertieften Verständnis der pädagogischen Beziehung.

Ich bringe das gar nicht mit Schule in Verbindung. Woran könnte das liegen?

Valtl: Die oberflächliche Antwort lautet: Weil wir das bisher vernachlässigt haben. Achtsamkeit hat als Forschungsbereich seit Mitte der Nullerjahre einen fulminanten Aufstieg genommen. Aber in der Schule kommt das nicht an, das System ist sehr schwerfällig, was Innovationen betrifft.

Die tiefere Antwort ist: Unser Schulsystem orientiert sich seit vielen Jahren an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Die personalen, emotionalen und sozialen Kompetenzen in der Bildung fallen entweder ganz weg oder werden nur insoweit berücksichtigt, als sie für die Arbeitswelt wichtig sind.

Die humanistische Auffassung von Bildung als einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist zwar nie offen aufgekündigt worden, aber nach und nach verblasst. Heute geht es primär um Leistung, Schule soll der Wirtschaft dienen.

Doch der Wind dreht sich langsam. Ein Anzeichen dafür ist, dass die OECD seit 2016 an einer großen Studie auf vier Kontinenten arbeitet mit dem Titel „Study on Social und Emotional Skills“. Es geht um die Wirkungen sozial-emotionalen Lernens (SEL) im Bildungswesen weltweit.

Es gibt seit einigen Jahren belastbare Daten, die zeigen, wie positiv seine Effekte sind, und daran werden wir dann nicht mehr vorbeikommen – wobei wir auch hier ein kritisches Auge auf eine mögliche neoliberale Ausrichtung haben müssen.

Achtsamkeit ist ein Querschnittsthema, relevant für alle Bereiche von SEL.

Wo ordnen Sie die Achtsamkeit beim SEL ein?

Valtl: Die Anfänge von SEL liegen in den 1990er Jahren. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keine relevante Achtsamkeitsforschung. Heute stellen wir nachträglich fest, dass Achtsamkeit implizit in SEL enthalten ist.

SEL nimmt Bezug auf die fünffache Matrix von CASEL (Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning), bestehend aus: Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, soziales Bewusstsein, Beziehungskompetenz und verantwortliche Entscheidungsfindung.

Molly Stewart Lawlor konnte in einer empirisch-theoretischen Studie nachweisen, dass diese fünf Elemente durch Achtsamkeit trainiert werden. Wir können heute also wissenschaftlich begründet feststellen: Achtsamkeit ist ein Querschnittsthema, relevant für alle Bereiche von SEL. Achtsamkeit ist ein zentraler Wirkfaktor, wenn wir Sozialkompetenz trainieren wollen. Auch in der OECD-Studie wird Achtsamkeit explizit erwähnt, ebenso Mitgefühl.

Mitgefühl ist für mich die Herzqualität der Achtsamkeit, ich spreche auch von mitfühlender Achtsamkeit – auch um mich abzugrenzen von unethischen Formen der Achtsamkeit.

Was müsste geschehen, damit Achtsamkeit Teil der Schulkultur wird?

Valtl: Ich weiß nicht, ob man das so planen kann. Wir machen uns auf den Weg dorthin. Achtsamkeit soll Teil der DNA von Schule werden. Es geht nicht darum, Achtsamkeit irgendwie anzukleben, sondern sie auf allen Ebenen der Schule zu integrieren: im Klassenzimmer, im Lehrerzimmer, in der Schulverwaltung.

Schulleiter*innen und Lehrer*innen in Achtsamkeit fortzubilden, ist der erste Schritt. Ob sie dann Schüler explizit in Achtsamkeit unterrichten oder nicht, ist nicht so entscheidend.

„Die Atmosphäre in deiner Klasse hat sich enorm verändert, wie kommt das?“

Positive Veränderungen in der Klasse treten schon dann auf, wenn Lehrkräfte Achtsamkeitskurse gemacht haben und regelmäßig praktizieren. Die Schüler*innen merken plötzlich, dass sich etwas verändert hat und fragen sogar nach: „Sie sind ganz anders, was ist da los?“ Oder die Kolleg*innen bemerken: „Die Atmosphäre in deiner Klasse hat sich enorm verändert, wie kommt das?“

Natürlich kann man die Achtsamkeit dann auch an Schüler*innen weitergeben – entweder mit vorgefertigten Programmen, wie es in Großbritannien geschieht, oder mit einer „Toolbox“, also mit einer Sammlung von Methoden, die man je nach Bedarf und Situation im Unterricht anwendet.

Das Interview erschien zuerst und in voller Länge auf Ethik heute

Karlheinz Valtl ist Bildungswissenschaftler, Senior Lecturer am Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien und Trainer für Hochschuldidaktik an der TU Wien. Er hat den Masterstudienlehrgang „Achtsamkeit in Bildung, Beratung und Gesundheitswesen“ an der KPH Wien mitentwickelt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Pädagogik der Achtsamkeit, Sozial-emotionales Lernen (SEL) und Sozial-emotionale Kompetenzen von Lehrpersonen (SEC). Im AVE-Institut ist er wissenschaftlicher Leiter der AVE-Weiterbildung, die er mitentwickelt hat. Hier unterrichtet er auch als Referent.

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  • Lehrer mit Schüler:innen: Shotshop / Imago
  • Karlheinz Valtl: Rui Camillo