Illustration Thorsten Geiger

„Kinder nehmen alles viel stärker mit ihren Sinnen wahr“

Erfahrungsbericht von Thorsten Geiger, Achtsamkeitslehrer und Pädagoge

Kinder sind achtsam, aber auch impulsiv. Achtsamkeitslehrer Thorsten Geiger integriert Achtsamkeit in seinen Arbeitsalltag in der Kita. Das rechte Maß sei wichtig: Wie viel Achtsamkeit ist gut – in Abgrenzung zu „Über-Achtsamkeit“?

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Das Interview führte Julia Grösch

Frage: Wie sind Sie zur Achtsamkeit gekommen und was haben Sie sich erhofft?

Thorsten Geiger: Zu bewusster, formaler Achtsamkeit bin ich über Lienhard Valentin und den Verein „Mit Kindern wachsen“ gekommen. Ich habe ihn ab 2009 zu Seminaren nach Berlin eingeladen. Es ging mir um ein für mich sinnorientiertes pädagogisches Konzept.

Mein Weg auf dem Pfad der Achtsamkeit begann früher, in den magischen Momenten meiner Kindheit. Achtsamkeit und Mitgefühl gehören zu uns, von Anfang an. Nur wird das in unserer Kultur noch nicht bewusst gefördert.

Als Erwachsener war ich irgendwann sehr gestresst. Dann habe ich den Bodyscan zur Stressreduktion kennengelernt, einen MBSR-Kurs und später selbst die MBSR-Lehrer-Ausbildung gemacht. Jetzt praktiziere ich Achtsamkeit um der Achtsamkeit willen. Achtsamkeit bedeutet für mich Freiheit vom (unnötigem) Leid und die Freude an der Präsenz.

Frage: Was bedeutet für Sie „Achtsamkeit in der Kita“? 

Geiger: Achtsamkeit in der Kita zeigt sich für mich in der bewussten wohlwollenden Ein- und Abstimmung auf mehreren Ebenen gleichzeitig: neurozeptiv-bindungsorientiert, organisch, sensorisch, emotional, kognitiv, altersabhängig, gruppendynamisch, interkulturell, im gesamten Tagesverlauf. Mit der relativ neuen Wissenschaft der Frühpädagogik ist das Wissen über die frühe Kindheit immens gestiegen. Achtsamkeit ist ein gutes Werkzeug zum Umgang mit dieser Komplexität.

Frage: Welche Veränderungen beobachten Sie, wenn Erzieherinnen und Erzieher Achtsamkeit kennen lernen?

Geiger: Mit formaler Achtsamkeit lernen Erzieher:innen eine Reihe von Methoden der Stressbewältigung. Ein verfeinertes Sinnesgewahrsein, Körper-Einfühlungsvermögen und stärkere Aufmerksamkeit erweitern das Verständnis von Kindern. Innehalten zu können und sich tiefer verbunden zu wissen, kann auch für das Zusammensein mit Kolleg:innen und Eltern hilfreich sein.

Kinder sind präsenter und reizoffener und in diesem Sinne achtsamer.

Frage: Bieten Sie auch Achtsamkeitsübungen für Kinder an? 

Geiger: Ich habe das Curriculum „Mindful Schools“ absolviert und das Programm über die Mittagszeit für die älteren Kinder selbst angeboten und Cecile Cayla von „Happy Panda“ eingeladen. Programme in Kitas finde ich generell schwierig, insbesondere für die Kinder mit erhöhtem Förderbedarf, die ich betreue. Man reißt die Kinder aus ihrem Spiel, sie müssen schnell eine neue sichere Beziehung zu einem externen Anbieter aufbauen, Mindful Schools findet noch viel im Sitzen statt, es gibt Finanzierungsprobleme.

Ich habe auch Kurse bei Daniel Rechtschaffen und Chris Willard besucht. Eine Zeit lang haben wir Morgenkreise mit der Spiderman-Atmung gestartet. Momentan machen wir häufig eine kleine achtsame Yoga-Übung. Auf achtsames Hören, zum Beispiel über eine Klangschale, reagieren die Kinder gut. Ansonsten arbeite ich gerne mit Hengstenberg-Materialien im Bewegungsraum und habe einen kleinen Malraum.

Kolleg:innen haben einen Sandspielraum inspiriert von Ute Strub eingerichtet. Es gibt viele Anknüpfpunkte für Achtsamkeit in unterschiedlichen pädagogischen Konzepten: Unsere Krippen-Erzieherinnen nehmen an Pikler-Fortbildungen teil. Montessori-Übungen der Stille oder dem Gehen auf der Linie sind reine Achtsamkeitsübungen. Wenn wir im Alltag auf unsere Sinneswahrnehmungen achten, kann alles zur Achtsamskeits-Übung werden: Hände waschen, Anziehen, essen. Das ist dann eher eine Frage der achtsamen Begleitung.

Frage: Sind Kinder eigentlich „achtsamer“ als Erwachsene? Können wir Erwachsene von Kindern in dieser Hinsicht etwas lernen?

Geiger: Kinder sind präsenter und reizoffener und in diesem Sinne achtsamer. „Jetzt!“ von Alain Serres und Olivier Tallec, eines meiner Lieblingsbilderbücher, zeigt diese kontinuierliche Präsenz.

Kinder sind aber nicht bewusst achtsam, sie sind impulsiv und können sich teilweise noch nicht so gut selbst regulieren, das ist die Chance von Erwachsenen. Andererseits nehmen Kinder alles viel stärker mit ihren Sinnen wahr und es kann für Erwachsene bereichernd sein, sich damit zu verbinden.

Achtsamkeit stößt an Grenzen, wenn es zu wenig Personal gibt.

Frage: Pädagog:innen stehen in Kitas heute vor vielen Schwierigkeiten, vor allem struktureller Art. Stößt Achtsamkeit da an ihre Grenzen?

Geiger: Achtsamkeit im Sinne einer behutsamen Begleitung der Kinder stößt an Grenzen, wo wissenschaftlich geforderte Personalschlüssel nicht umgesetzt werden. Die niedrige Bezahlung erzeugt Qualitätsprobleme. Mit dieser Missachtung im System müssen Arbeitende umgehen können. Mit Achtsamkeit im sozial engagierten Sinn stehen Pädagog:innen da vor Herausforderungen. Der massive Ausbau der Frühbetreuung erfordert noch mehr Achtsamkeit in Kitas.

Frage: Welche Vision haben Sie von einer Kita, in der achtsamkeitsbasiert gearbeitet wird?

Geiger: Um ehrlich zu sein bin ich skeptisch gegenüber Achtsamkeit als Konzept in der Kita. Meine Vision ist integer gelebte Achtsamkeit. Wichtig ist mir auch Mitgefühl oder Wohl-Verbundenheit, wie es in Kindeswohl oder Gemeinwohl zum Ausdruck kommt.

Intuitiv achtsam arbeiten immer mehr Pädagog:innen, die Erfahrungen mit Pikler, Hengstenberg, Montessori, Achtsamkeit und Yoga haben. Es wäre vielleicht hilfreich, Stufen der systematischen Entwicklung, Integration und Reflexion von Achtsamkeit zu formulieren.

Dazu gehört auch, sich Gedanken über das richtige Maß zu machen: Wie viel Achtsamkeit brauchen wir –  in Abgrenzung zu Über-Achtsamkeit. Und wir sollten überlegen, wie man achtsam mit Unachtsamkeit umgehen will. Wieweit darf man jemand auf Achtsamkeit verpflichten? An kindeswohlgefährdenden Grenzen ja, aber können wir eine permanente, wohlwollende, einfühlende Aufmerksamkeit verlangen? Das geht für mich nur, wenn man dafür Ressourcen bereit hält, also die Möglichkeit sich immer wieder mit grundlegend (selbst)fürsorglicher Achtsamkeit zu verbinden.

Achtsame Kommunikation ist da für mich ganz wichtig. Im Ursprungskontext richtet sich Achtsamkeit nach innen, nach außen und auf das dazwischen. Die Vernetzung und Austauschmöglichkeit achtsamer Fachkräfte wäre unterstützend, bis ganze Kitas achtsam arbeiten. Letztendlich muss man sich von den eigenen Vorstellungen einer achtsamen Kita lösen können und Kitas achtsam sein lassen.

Buchtipp von Thorsten Geiger: „Jetzt!“ von Alain Serres und Olivier Tallec, erschienen 2009 im Gertenberg Verlag.

Thorsten Geiger arbeitet als Erzieher in einer Berliner Kita. Er ist Facherzieher für Integration, SAFE®-Mentor (Sichere Ausbildung für Eltern) und Lehrer für Gewaltfreie Kommunikation (Gabriele Seils). Seit 2015 ist er (MBSR-)Achtsamkeitslehrer (Arbor Seminare). Für Erzieher:innen bietet er einen selbst-entwickelten Achtsamkeitskurs an und gibt Workshops zu verschiedenen Themen. Seine aktuellen Angebote finden Sie hier.

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  • Illustration Thorsten Geiger: Bitteschön.tv
  • Thorsten Geiger: privat