Dr. Helga Breuninger

Beziehungslernen – Mut fängt mit der neuen Haltung an

Die Lerntherapeutin Dr. Helga Breuninger engagiert sich mit ihrer Stiftung und dem Projekt intus3 für eine neue Beziehungskultur in Bildungseinrichtungen. Im Interview erklärt sie, warum Kinder am besten von Lehrer:innen lernen, die sie lieben.

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Dr Helga Breuninger engagiert sich im Netzwerk Pioneers of Education mit Silke Weiss (Lernkulturzeit) und Margret Rasfeld (Schule im Aufbruch) für die Transformation des Bildungssystems. Mit ihrer Arbeit als Stifterin möchte Helga Breuninger darauf hinwirken, aus einer hierarchisch organisierten Gesellschaft eine co-creative, gerechte Welt zu machen.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

 

Wie wurde das Beziehungslernen solch ein starker Fokus für Sie?

Helga Breuniger: Für mich war ein prägendes Erlebnis meine eigenen Schulerfahrungen in der Nachkriegszeit. Als ich 1956 in die Schule kam, war ich traurig und starrte im Unterricht nur aus dem Fenster.

Meine Eltern waren mit dem Aufbau der Firma beschäftigt und hatten für uns Kinder keine Zeit. Aber sie hatten eine wunderbare Erzieherin eingestellt. Mit Beginn meiner Schulzeit heiratete sie und kündigte ihre Stellung bei uns. Heute würde man sagen, ich war traumatisiert. Ich fühlte mich verlassen, heimatlos und unfähig, Kontakt zum Lehrer oder zu den anderen Kindern aufzunehmen.

Nach einigen Monaten war meine Mutter sehr verunsichert, weil ich zuhause Geige spielte, aber keine Hausaufgaben machte. Deshalb ging sie mit mir zu meinem Lehrer und wollte wissen, was los sei. Mein Lehrer, der Herr Pfitzenmeier, sah meine Mutter an und fragte, was mein Lieblingsessen sei. Und dann sagte er: „Wir haben vier Jahre Zeit in der Grundschule, ihre Tochter wird alles lernen und ist gut begabt. Überlassen Sie das ruhig mir. Das einzige, was ich nicht für sie machen kann, ist ihr Lieblingsessen.“

Ich hatte das große Tribunal erwartet, stattdessen lief ich nach Hause wie eine kleine Königin.

Ich werde nie vergessen, wie ich mich in dieser Situation fühlte. Ich hatte das große Tribunal erwartet, stattdessen lief ich nach Hause wie eine kleine Königin. Und zum Abschied sagte mein Lehrer noch, ich solle meine Geige in den Unterricht mitbringen.

Am nächsten Tag kam ich mit meiner Geige und spielte der ganzen Klasse vor und Herr Pfitzenmeier sagte: „Das kann die Helga doch richtig gut! Seht, was die Helga zuhause macht, ihr schreibt, lest und rechnet, und sie übt Geige.“ Und dann durfte ich mir zum ersten Mal einen Keks aus einer Keksdose holen, der jedem zustand, der etwas gut gemacht hatte.

Und dann nahm er mich nach der Stunde zu sich und sagte, dass es ihm die Sorge meiner Mutter nachgegangen sei. Ich solle jeden Tag ein Plakat mit Wörtern schreiben und ihr schenken. Das erste Plakat war für das Wort „und“. Er schrieb es mir in Schönschrift vor und ich schrieb es hundertmal nach, bis das Plakat voll war.

Die Beziehung wirkt auf das Selbstwertgefühl der Kinder.

Was war das Besondere an diesem Lehrer aus Ihrer heutigen Sicht?

Breuninger: Dieser Lehrer hat Kinder unterrichtet und keine Fächer. Er hat uns gesehen mit unseren Stärken, uns viel zugetraut und individuell gefördert. Er hat nie jemanden beschämt oder bestraft. Er war geduldig, fürsorglich und liebevoll. Für Herrn Pfitzenmeier habe ich alles gemacht, weil ich ihn so geliebt habe.

Während meines Psychologiestudiums engagierte ich mich bei einem Projekt, in dem wirkungsvolle Hilfen für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwächen erprobt wurden. Ich ging mit den Kindern so um, wie Herr Pfitzenmeier es mit mir getan hatte. Die Professoren meinten, das wäre großartig und fragten, wo ich das gelernt habe. Da verstand ich, dass das ganz und gar nicht selbstverständlich ist.

Ich ging der „Methode Pfitzenmeier“ auf den Grund. Mit Professor Dieter Betz entwickelte ich 1974 ein kybernetisches Modell des Lernens als Wirkungsgefüge. Darin wurde schnell die zentrale Rolle der Beziehung zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen sichtbar.

Die Beziehung wirkt unmittelbar auf das Selbstwertgefühl von Kindern. Ist das Selbstwertgefühl positiv, kommt Lernfreude auf und das Kind wird aktiv. Ist das Selbstwertgefühl negativ, erlebt das Kind Angst vor Versagen und Beschämung und vermeidet Lernen. Die neuere Hirnforschung bestätigt diese Erkenntnisse aus dem Wirkungsgefüge: Das Gehirn ist ein Sozialorgan, Kinder kommen in die Schule und wollen Beziehung (Manfred Spitzer). Und: Lernfreude ist der Motor, der Lernen am Laufen hält (Gerald Hüther).

Für mich ergibt sich in Konsequenz daraus ein neues pädagogisches Professionsbewusstsein. Es geht darum, Kinder in einen Resonanzraum einzuladen, Verbindungen zu fördern und Lernfreude zu stärken. Dann „knistert“ es im Klassenzimmer, so der Untertitel von Hartmut Rosas Buch „Resonanzpädagogik“.

Kinder kommen in die Schule und wollen Beziehung.

Sie haben ein Modell für das Lernen entwickelt. Können Sie das etwas erläutern?

Breuninger: Das Wirkungsgefüge des Lernens beschreibt einen Dialogprozess. Drei Dialoge interagieren miteinander: Beziehungsdialog, Lerndialog und innerer Dialog. Das Kind steht mit den Lehrer:innen, den Mitschüler:innen und den Eltern in Beziehung.

Dabei geht es zum einen um Lerninhalte, aber auch um das Gefühl, gemocht und angenommen zu werden. Wenn Kinder sich gesehen und akzeptiert fühlen, nehmen sie Impulse im Lerndialog auf und werden im inneren Dialog aktiv, d.h. sie lassen sich auf Herausforderungen ein und kooperieren mit dem Lehrer.

Der Beziehungsdialog mit der Lehrerin entscheidet, wie ein Kind lernt. Wenn es den Lehrer mag und mit ihm kooperieren will, dann wird es gut lernen. Wenn die Beziehung gestört ist, schirmt sich das Kind innerlich ab und verweigert die Anstrengungsbereitschaft im inneren Dialog. Es vermeidet, stört oder ist desinteressiert.

Jede gute Lehrer:in weiß, dass beide Prozesse gleichzeitig verlaufen. Wie ich die Stunde beginne, die Schüler begrüße, eine lernförderliche Atmosphäre gestalte, das ist der eine Prozess. Der andere ist, wie ich die Schüler für meine Inhalte begeistere, sie zum Lernen aktiviere und an der Stunde beteilige. Für die meisten Kinder gilt, dass sie nur von Lehrern lernen, die sie lieben.

Lehrer sind selbst Lernende, wenn sie Kinder unterrichten statt Fächer.

Sie sprechen häufig vom „Potenzialblick“. Was meinen Sie damit und wie kann man diesen Blick schärfen?

Breuninger: Karl Gustav Jung hat einmal sinngemäß gesagt: Probleme kann ich nicht ändern, aber ich kann die Kräfte stärken, die meinem Patienten Lebenskraft und Lebensfreude geben. Für mich sind diese Kräfte Potenziale.

Jung therapierte mit dem Potenzialblick statt mit dem Problemblick. Ein Beispiel aus der Lerntherapie mit einem 13-jährigen Schüler: Die Mutter des Jungen hatte mir erzählt, dass ihr Sohn gerne Tischtennis spielt. Also ging ich mit dem Jungen gleich zur Tischtennisplatte in unserem Hof.

Er gewann das Spiel und ich sagte zu ihm: „Thomas, ich habe genau aufgepasst, warum Du gewonnen hast. Nur drei Mal konnte ich Dir mit der Vorhand Bälle schmettern. Danach hast Du mir nur noch auf die Rückhand serviert oder knapp übers Netz gespielt. Das hast du sehr schnell beobachtet und gewonnen. Diese Beobachtungsgabe, diese strategische Leistung kann für so viel im Leben wertvoll sein. Da schauen wir mal, für was du das noch nutzen kannst.“

Thomas strahlte. Ich habe als erstes sein Selbstwertgefühl gestärkt. Dann bist du sofort in einer Beziehung. Du verbündest dich mit dem Kind in dem, was es gut kann. Das schafft Resonanz und trägt die gemeinsame Arbeit. Mein Potenzialblick schafft das Resonanzfeld.

Die eigene Sozialisation verarbeiten und sich mit den eigenen Lernerfahrungen auseinandersetzen.

Wie kann man die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit bei Lehrerinnen und Lehrern unterstützen?

Breuninger: Zunächst einmal durch die Verarbeitung der eigenen Sozialisation. Was hat mich früher verletzt, was habe ich an Demütigungen und Beschämungen eingesteckt? Erst wenn ich Zugang zu meinen Gefühlen finde und mich mit meinen eigenen Lernerfahrungen auseinandersetze, kann ich verhindern, heute aktiv auszuteilen, was ich früher passiv eingesteckt habe.

Diesen Wiederholungszwang hat Sigmund Freud entdeckt und den können wir nur unterbrechen über Selbstreflexion und Empathie. Wenn ich nicht mehr fühle, was es in einem Zweitklässler auslöst, wenn ich ihm eine Sechs gebe, dann ist meine Empathiefähigkeit blockiert. Und diese Blockaden müssen aufgelöst werden.

Man muss auch die eigenen Glaubenssätze hinterfragen. Manche Lehrer glauben, wenn sie dem Kind Druck, Angst oder ein schlechtes Gewissen machen, dann strengt es sich an.

Lehrer sind selbst Lernende, wenn sie Kinder unterrichten statt Fächer. Das ist das neue Rollenverständnis, für das wir alle viel zu wenig Rollenvorbilder hatten. Wie finde ich heraus, was Kinder jetzt brauchen? Wie kann ich eine Lernumgebung schaffen, die Kinder aktiviert? Wie kann ich sie an Lösungen beteiligen?

In diesen neuen Rollen agieren Lehrer als Lernbegleiter, Moderatoren oder Assistenten, die den Kindern helfen, sie beteiligen, statt wie früher zu disziplinieren und zu belehren.

Mit Beziehungslernen entwickeln sich aus hierarchischen Ich-Es- Beziehungen gleichwürdige Ich-Du Beziehungen.

Wie kann sich durch Beziehungskompetenz die Institution Schule verändern?

Breuninger: Beziehungskompetenz kann die Hierarchie im Schulsystem transformieren. Wenn ein Schulkollegium ein ganzes Jahr lang gemeinsam Beziehungskompetenz einübt, dann ruft zum Beispiel die junge Referendarin nach einer Schulkonferenz die Rektorin an und sagt: „Hör mal, Regina, ich hab mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen, was du da heute entscheiden hast, das trage ich so nicht mit.“

Die Rektorin hört ihr zu und nimmt sie ernst, weil sie möchte, dass ihre Lehrerin die Entscheidung mitträgt. Die junge Lehrerin agiert auf Augenhöhe, obwohl die Rektorin formal die hierarchisch höhere Position innehat. In der hierarchischen Dynamik entscheidet die Rektorin etwas und die Lehrerin ordnet sich dem unter – so wie sich Kinder den Erwachsenen unterordnen.

Martin Buber nennt die Unterordnung eine Ich-Es-Beziehung. Mit Beziehungslernen entwickeln sich aus hierarchischen Ich-Es- Beziehungen gleichwürdige Ich-Du Beziehungen. Zwei Subjekte begegnen sich respektvoll und verhandeln Lösungen auf Augenhöhe.

Damit Kollegien aus dem erstarrten hierarchischen System ausbrechen können, braucht es mutige Schulleitungen, die solche Entwicklungen ermöglichen. Der Mut fängt mit der neuen Haltung an, die über Beziehungslernen entsteht. Und dann kann es mutig weitergehen: Vertrauen statt Kontrolle, Gelingensbeweise statt Noten, Projektlernen statt Fächer, und Freiräume statt Vorgaben. Solche Schulen gibt es bereits in Deutschland, begleitet von der Initiative „Schule im Aufbruch“ und es werden immer mehr.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dr. Helga Breuninger, 75, ist Lerntherapeutin und leitet die Breuninger Stiftungsgruppe. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und Psychologie promovierte sie 1980 in Psychologie über das Essener Modell der Lehrerbildung mit Lernziel Beziehungsfähigkeit. 2012 entwickelte sie mit Wilfried Schley das videobasierte Trainingsprogramm «Beziehungslernen» im Stiftungsverbund intus3.

Hier kommen Sie zu einem Vortrag von ihr über das Beziehungslernen.

Im Interview sprach sie für ethik heute auch über ihren Werdegang, ihr Engagement für Bürgerbeteiligung und wie sie als Stifterin immer mutig Neues erprobt. Das Interview lesen Sie hier.

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  • Dr. Helga Breuninger: Zeitenspiegel