Der Achtsamkeitsboom – Hintergründe und Fallstricke

Eine wissenschaftlich fundierte Lektüre über Achtsamkeit im Wandel der Zeit. Akribisch und sorgfältig hat die Autorin Hintergründe der Achtsamkeitsbewegung recherchiert und kulturhistorisch beleuchtet. Lesenswert!

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Der Autorin Ursula Baatz ist mit ihrer Neuerscheinung eine wissenschaftliche Meisterleistung gelungen. Akribisch und sorgfältig hat sie Hintergründe des Achtsamkeitsbooms recherchiert und entzaubert. Achtsamkeit – „mindfulness“ – dieser Begriff ist heute omnipräsent. Aber was steckt hinter dieser populären Übungspraxis wirklich? Und wie entwickelte sich Achtsamkeit zum Boom?

In ihrem Buch legt die Autorin den Begriff unter der wissenschaftlichen Linse auf den Seziertisch. Selten habe ich ein so kluges, spannendes und kulturhistorisch interessantes Buch zum Thema Achtsamkeit gelesen.

Kulturtransfer von Asien in den Westen

In zehn Kapiteln erfahren wir, wie sich die Achtsamkeitsübungen aus Asien ab dem 19. Jahrhundert mit dem Kolonialismus und der Modernisierung des Buddhismus durch eine Laienbewegung gewandelt haben. Wie in einem Krimi schickt die Autorin uns Leser*innen auf eine faszinierende historische Entdeckungsreise. Wir erfahren, wie sich die Achtsamkeitspraktiken mit dem Kulturtransfer aus asiatischen Klöstern langsam ändern und heute in Unternehmen, Krankenhäusern, Schulen, Psychotherapiepraxen, aber auch beim US-Militär Anwendung finden.

Intention der Religionswissenschaftlerin und Philosophin Ursula Baatz, die auch Zen- und MBSR-Lehrerin ist, war es, den Prozess dieses Kulturtransfers nachzuvollziehen. Als Expertin gibt sie nicht nur detailliert Auskunft über die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch über die westliche Buddhismus-Rezeption.

Global bekannt wurde die Achtsamkeitspraxis vor allem durch Jon Kabat-Zinn, dessen MBSR-Programm sich u. a. auch auf die Vipassana-Lehre zurückführen lässt und dem sie etliche Kapitel widmet. „Aus einer monastischen Übung wird ein medizinisch und psychologisch evaluiertes-empfohlenes Training“, so die Autorin.

Ethik: integraler Aspekt von Achtsamkeit

Auch den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh, einen anderen modernen Wegbereiter der alltagstauglichen Achtsamkeitspraxis benennt sie. Er gilt als Vertreter des engagierten Buddhismus und integrierte die Achtsamkeitspraxis u.a. mit Geh- und Essmeditation, achtsamem Sprechen und Zuhören in das tägliche Leben. Dennoch sei für Thich Nhat Hanh der Beziehungsaspekt der Verbundenheit (Interbeeing) und damit Ethik ein integrales Moment der Achtsamkeitspraxis. Sie könne nicht ohne Grundlage der ethischen Regeln des Buddhismus geübt werden.

In einem Exkurs widmet Baatz sich auch der Wandlung des Begriffes Achtsamkeit vom ursprünglich buddhistischen Begriff Sati (Palikanon) zu mindfulness. Sati, Achtsamkeit, sei ein Aspekt des Achtfachen Weges des Buddha und die buddhistische Übung der Achtsamkeit dabei stets motiviert durch den Wunsch nach Erwachen.

Folgenreich sei vor allem gewesen, dass der deutsche Mönch Nyanaponika Achtsamkeit und Aufmerksamkeit nicht klar voneinander unterschieden hätte und so der ethische Aspekt im Lauf der Zeit vernachlässigt wurde. Achtsamkeit konnte daher zum Medium der Disziplinierung für Militär und Industrie werden, so die Schlussfolgerung der Autorin.

Zum Schreiben des Buches wurde sie durch eine Ausstellung in Wien über das Entstehen eines „industrialisierten Bewusstseins“ inspiriert, wie sie im Nachwort bekennt. In der Folge stieß sie auf historisch interessante Fragestellungen, inwiefern der Achtsamkeitsboom letztlich mit der Industrialisierung, der modernen atemlosen Arbeitswelt und der Zunahme von Stress und Burn-out einhergeht.

Achtsamkeit: als Konsumgut instrumentalisiert

Achtsamkeitspraktiken werden als Teil des „gesellschaftlichen Nützlichkeitskalküls“ durch wissenschaftliche Forschung legitimiert, so Baatz. Achtsamkeit sei in der zeitgenössischen Industriegesellschaft zum ökonomischen Faktor und Tool für Erfolg und Psychohygiene degeneriert, so die harsche Kritik der Autorin, die jedoch nie als Anklage daherkommt, sondern immer mit stichhaltigen Argumenten belegt und begründet wird.

Das Buch gibt auf der anderen Seite vielfache Anregungen, wie der fehlende ethische Aspekt der Achtsamkeitspraxis wieder integriert werden könnte. „Wahre Achtsamkeit“, so die Autorin, die sich im Schlusswort auch auf Hartmut Rosa bezieht, „öffnet für Resonanzen und handelt aus der Erfahrung der Verbundenheit und Verletzbarkeit des Lebens.“

Ursula Baatz entzaubert in ihrem Buch Achtsamkeit und entreißt dem Begriff das schillernde Glitzerkleid. Was sie dabei enthüllt, ist vor allem, wie lebendig der Begriff Achtsamkeit und jeweils abhängig vom kulturhistorischen Kontext ist. Sie zeigt, wie der Begriff heute als Konsumgut und Handelsware von einer neoliberalen Gesellschaft instrumentalisiert werden kann und gleichsam die Sehnsucht der westlichen Welt nach Glück, Entspannung, Erholung und Wohlbefinden spiegelt.

Wer mehr über Achtsamkeit erfahren will, der sollte dieses intelligente Buch unbedingt lesen! Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber sie lohnt sich!

Michaela Doepke

Ursula Baatz, Achtsamkeit. Der Boom. Hintergründe, Perspektiven, Praktiken. 2023 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage

Ursula BaatzDr. Ursula Baatz ist Religionswissenschaftlerin und Philosophin, Achtsamkeits- und Zen-Lehrerin, Lehrbeauftragte für interkulturelle Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Klagenfurt und langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin beim ORF.

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  • Ursula Baatz: Lukas Beck