Das Gespräch führte Marika Muster.
Frage: Welche thematischen Schwerpunkte hat „beWirken“?
Judith Holle: Unsere Schwerpunktthemen sind Lernbegleitung und selbstorganisiertes Lernen. Es geht einerseits darum, die Rolle der Lehrkraft in den Fokus zu nehmen, andererseits darum, das Lernsetting an sich anders zu organisieren. Damit geht es auch um Partizipation, also wie Schülerinnen und Schüler ein aktiver Teil ihres Lernprozesses werden. Als Querschnittsthema kommt das Digitale als ein wichtiger Transformationstreiber hinzu. Wir fragen uns: Wie verändert sich das Lernen durch und mit Digitalisierung?
Frage: Welche Ziele stehen dahinter?
Holle: Das größte übergeordnete Ziel ist letztendlich, die jungen Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können, dass sie ihre Potenziale kennen und entfalten, sich damit wohlfühlen, damit in die Welt rausgehen und die Gesellschaft mitgestalten.
Frage: Aber ihr arbeitet mit den Lehrkräften, oder?
Holle: Ja, weil diese tagtäglich mit den Schülerinnen und Schülern im Kontakt sind. Uns geht es auf verschiedenen Ebenen darum, Lernbegleitung zu ermöglichen. Es gibt den schönen Begriff der Ermöglichungsdidaktik und der schwebt in unseren Angeboten zu diesem Thema immer mit.
Wichtig ist auch die dahinterstehende Haltung. Wie gehe ich in den Lernprozess, in das Lernsetting? Welche Haltung habe ich den Lernenden gegenüber? Ich bin nicht die Person, die schon alles weiß, sondern die Person, die offen ist für das, was passiert, offen für den Prozess, der kommt, das, was die Schüler*innen mitbringen. Daraus gestalten wir gemeinsam das Lernen, wir entdecken und machen Erfahrungen.
Frage: Welche Rolle spielt die Digitalisierung?
Holle: Wir arbeiten ganzheitlich mit Schulen und klären den Fokus: „Was wollt ihr tun?“ Wenn Schulen vor dem Hintergrund der Digitalisierung zu uns kommen, stehen die meisten Schulen an dem Punkt, dass sie sagen „Wir haben hier jetzt so iPads liegen.“ Viele haben auch den Drang, die Schülerinnen und Schüler stärker zu beteiligen. Meist sind beide Bedürfnisse da. Aber worauf jetzt der Fokus gelegt wird, das ist individuell. Das schauen wir uns gemeinsam an.
Wir bieten Fortbildungen und Begleitungen im Schulentwicklungsprozess an. Aber auch kleinere Angebote wie unser Buch „UnLearn School – Auf dem Weg zum Lernen der Zukunft“, mit dem wir inspirieren wollen. So ein bisschen wie eine Schulhospitation im Rucksack, weil man ja nicht permanent durch alle Schulen in Deutschland touren kann.
Es braucht immer auch die, die vorangehen und die Funken sprühen.
Frage: Setzt „bewirken“ bei einzelnen Lehrkräften, bei Schulleitungen oder der ganzen Schulgemeinschaft an?
Holle: Es braucht immer die, die vorangehen, die die Funken sprühen, die sagen „Hey, hier gibt es was Neues und wir als Schule könnten doch…“ Daher haben wir auch Fortbildungen für Einzelpersonen, unsere „Lernbegleiter Journey“ oder unsere „UnLearn School“-Filme. Da kann man sich inspirieren lassen, Neues kennenlernen.
Aber um wirklich eine Transformation umzusetzen, ist der Versuch, einzelne Lehrkräfte zu erreichen, ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn wir die Transformation wirklich wollen, müssen wir mit den Schulen arbeiten, aber auch mit dem System der Lehrkräfteausbildung, Fortbildung, der Schulentwicklung und so weiter.
Deshalb begleiten wir Schulen ganzheitlich in ihren Schulentwicklungsprozessen, sowohl auf einer Organisationsebene, also der Gestaltung von Lernprozessen Lernprozessen sowie generellen Abläufen und Prozessen, als auch auf einer Fortbildungsebene, um Lehrkräfte, ganze Kollegien zu befähigen, in die Lernbegleitungsrolle hineinzufinden.
Frage: Wie ist das mit den Kindern und Jugendlichen? Man kann nicht einfach sagen „wir machen das jetzt“, sondern sie müssen auch erstmal lernen, Entscheidungen zu treffen, weil ihnen das normalerweise von der Schule abgenommen wird…
Holle: Ja, die Kinder und Jugendlichen müssen das genauso lernen wie die Lehrkräfte. Das nimmt sich nicht viel. Jeder hat das System mit seinen Routinen kennengelernt, daher ist es uns wichtig, Lerndende von vornherein zu beteiligen. Auch sie brauchen dafür natürlich Inspiration. Wer nur eine 90, 60 oder 45-Minuten-Taktung kennt, der kommt im Zweifel gar nicht auf die Idee, dass man sich auch die Lernzeit frei gestalten könnte. Einfach weil man es ja nie anders erlebt hat. Am Ende geht es darum zu zeigen, welche Möglichkeiten es gibt und die Schüler*innen sowohl in Entscheidungen, Ideenfindungen als auch die Umsetzung mit einzubeziehen.
Das Ziel ist ein partizipativer Unterricht. Dafür müssen Schüler und Schülerinnen wissen, wie sie sich selbst organisieren können: „Wie treffe ich Entscheidungen? Wie schaffe ich es, mich zu motivieren oder auch mal gegen meinen Schweinehund anzukämpfen? Wie lerne ich, was lerne ich, mit wem und mit welchen Methoden?“ Das sind wichtige Kompetenzen, auch nach der Schulzeit. Normalerweise tritt sowas hinter der Stoffvermittlung in den Hintergrund.
In offenen Lernsettings, in denen die klassische Stundentaktung aufgebrochen wird, entsteht Raum für Inklusion.
Frage: Gibt es Erfahrungen im Inklusionsbereich?
Holle: Im klassischen Unterricht ist es überhaupt nicht möglich, dass Inklusionskinder die Ruhe und Aufmerksamkeit bekommen, die sie eigentlich brauchen. In offenen Lernsettings, in denen die klassische Stundentaktung aufgebrochen wird, entsteht überhaupt erstmal Raum, in dem Differenzierung stattfinden kann.
Das Lernen im eigenen Tempo bringt Entspannung. Wenn ich beispielsweise dreimal so lange wie andere brauche, um einen Text zu lesen, darf ich mir diese Zeit auch geben, ohne dass es in Stress ausartet oder ich in der nächsten Stunde hinterherhänge. Auf der anderen Seite haben Lehrkräfte oder Lernbegleitungen den Raum, sich zwischen den Schüler*innen zu bewegen, weil sie nicht alle gleichzeitig bespielen müssen, und es entstehen neue Zeitfenster, zum Beispiel, weil einige Kinder auch mal zwei Stunden lang ohne Unterstützung auskommen und sich untereinander helfen. Für diejenigen, die besonders viel Unterstützung brauchen, habe ich dann auf einmal viel mehr Zeit.
Frage: Wie geht „beWirken“ mit behördlichen Vorgaben um?
Holle: Je nach Schulform und Bundesland sind die staatlichen Vorgaben sehr unterschiedlich. Die Schulen sind die Experten dafür, was geht mit den Rahmenbedingungen bei ihnen geht und was nicht. Wenn wir ein neues Lernkonzept erarbeiten, schauen wir gemeinsam, wie wir den Rahmen kreativ nutzen und das Beste daraus machen können.
Manche Vorgaben sind sehr einschränkend. Da muss man sagen „okay, das geht halt nicht“. Leider können wir nicht alles umsetzen, wie wir es wollen. Aber es gibt auch Spielräume. Beispielsweise bei einer Gesamtschule in Niedersachsen, da konnten wir die Unterrichtszeiten mit einer flexiblen Rhythmisierung gestalten.
Frage: Wie ist es mit der Finanzierung der Angebote?
Holle: Manchmal arbeiten wir mit den Landesinstituten zusammen, dann gibt es Angebote, die darüber finanziert werden. Aber wenn wir direkt mit den Schulen arbeiten, dann zahlen sie das selbst. Sie kaufen vielleicht erstmal unser Buch, buchen mal einen Fortbildungstag oder aber auch einen dreijährigen Schulbegleitungsprozess. Das loten wir gemeinsam mit den Schulen aus.
Frage: Viele Schulen sind am Limit – Lehrkräftemangel, hoher Krankenstand, viele Anforderungen auf verschiedenen Ebenen. Ist es dann trotzdem sinnvoll Transformationsprozesse anzuschieben?
Holle: Das ist ein Dilemma, in dem wir uns da gerade sehr häufig befinden. Wenn eine Schule gerade stark überlastet ist, ist es natürlich schwierig, ganz viel Neues zu entwickeln und es ist wichtig, ein System nicht in die permanente Überforderung zu bringen. Gleichzeitig wird sich an den Herausforderungen meist auch von alleine nicht viel ändern, ohne dass die Schule aktiv wird und Lösungen entwickelt.
Hier ist es wichtig, eine gute Balance zu finden: Einerseits Rücksicht zu nehmen auf die Kapazitäten und gleichzeitig Probleme auch aktiv anzugehen – auch in ihrem Kern und nicht nur Pflaster klebend an der Oberfläche. Wichtig für Veränderung ist aber in jedem Fall, dass eine Stimmung entsteht, in der Kreativität und Offenheit für neue Wege möglich sind
Wenn eine Schule gerade stark überlastet ist, dann passiert erstmal nichts. Man muss erst die Feuer löschen, bevor man anfangen kann weiterzugucken. Es muss erstmal eine Stimmung entstehen, in der Kreativität und Raum da sind. Das ist das Problem in vielen Schulen. Deshalb ist es wichtig, mittel- und langfristig zu denken. Ich kann keiner Schule sagen, dass Schulentwicklung in den ersten zwei Jahren Entlastung bringt. Das ist unrealistisch. Mittelfristig entstehen aber mehr Zufriedenheit, Klarheit, gute Zusammenarbeit und eben auch Zeiträume, die dann genutzt werden können.
Andererseits gibt es auch Schulen, die mir sagen „na ja, uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, als unsere Unterrichtszeiten zu flexibilisieren, weil wir sonst an den Punkt kommen, dass wir durch den Lehrkräftemangel 60 Kinder in einem Raum haben. Wenn man bereits das Konzept von Selbstlernphasen mit Lernbegleitern hat, ist da viel mehr Flexibilität drin, auch um Unterbesetzung und Krankheiten kreativ auszugleichen. Es kommt ein gewisser Spielraum rein. Und wenn man so grundlegend an die Unterrichtsorganisation rangeht, ist mittelfristig wirklich ein großes Potenzial da.
Frage: Steckt da auch ein Funken von Gefahr drin, wenn man merkt, es geht ja auch mit weniger Personal geht?
Holle: Theoretisch ja. Aus pädagogischer Sicht macht es trotzdem Sinn, dass wir immer mehr Lehrkräfte haben. Wenn KI zur Wissensvermittlung dazukommt, dann wird sicherlich die Frage auf uns zukommen: „Was ist dann eine Lehrkraft im Kontext Schule?“
Frage: Ich wüsste gern noch, wie bei „bewirken“ mit Widerständen im Kollegium umgegangen wird?
Holle: Alle mit ins Boot zu kriegen geht nie in Change-Prozessen. Das muss man sich ehrlich sagen. Was aber ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist, ist genau diesen Prozess zu gestalten. Das „sich einstimmen“, das Kennenlernen, sich auseinandersetzen. Wir arbeiten dabei gerne mit der Theory U von Otto Scharmer, bei der es in der ersten langen Phase des Prozesses darum geht, überhaupt zu verstehen, worum es geht, wie es vielleicht woanders aussieht.
Wichtig ist, dass jede Lehrkraft mindestens einmal in einer Schule hospitiert, die das Lernen anders gestaltet, weil es dadurch greifbarer wird. Auch diejenigen, die vielleicht noch kritisch sind, sehen „okay, es kann funktionieren“ und können eine gewisse Motivation bekommen. Wichtig ist auch, dass immer wieder Austauschräume entstehen, über Ideen, Ängste, Schwierigkeiten, aber auch über das ganze Schöne, was man sich wünscht, was man sich vorstellt. So dass alle Teil des Prozesses und der Entwicklung sind und Feedback einfließt.
Klassischerweise geht ein Drittel motiviert voran, ein Drittel macht irgendwie mit und ein Drittel hält sich eher zurück oder arbeitet ein bisschen dagegen. Jeder, der sich unsicher ist und Sorgen hat, kann mitgenommen werden, indem man ihn unterstützt. Diejenigen, die sabotieren, die können allerdings nicht Teil des Prozesses sein. Da muss man im Zweifel auch rausberaten. Wenn klar ist, wohin man sich als Schule bewegen will, und einzelne Mitarbeitende sagen „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen“, dann ist das legitim. Aber dann ist es halt nicht mehr die richtige Schule für diese Person.
Frage: Schulen können sich, zumindest wenn sie staatlich sind, das Personal allerdings nicht aussuchen…
Holle: Ja. Da sind Schulen natürlich gehandicapt. Das ist ein echter Nachteil und eine schwierige Rahmenbedingung. Am Ende hängt es an der Person selbst, den Versetzungsantrag zu stellen. Daher bedeutet gute Personalentwicklung, in beide Richtungen zu gucken: Wie schaffe ich es, die Mitarbeitenden, die gut passen, zu befähigen, weiter mitzugehen und diejenigen, die nicht passen, bei ihrem Ausstieg zu unterstützen, damit sie ihren Weg gehen können.
Frage: Ist das nicht schwierig, wenn man ohnehin schon Personalmangel hat?
Holle: Klar ist es eine Herausforderung, aber ich kenne Schulen, die auch sagen, in dem Moment, wo jemand die ganze Zeit gegen uns arbeitet, habe ich mehr Arbeit damit als wenn ich jemand anderes suche“. Das sind allerdings einzelne Extremfälle.
Frage: Was möchten Sie Lehrkräften und Schulleitungen noch mit auf den Weg geben?
Holle: Wir haben jetzt ganz viel über sehr große Transformationsprozesse gesprochen, und die sind natürlich da. Alles hört sich riesig und sehr aufwendig an und das ist es irgendwie auch. Daher will ich dazu ermutigen, im Kleinen anzufangen und Inspirationen zu sammeln, das Thema Schulhospitationen angehen, ohne schon große Pläne zu haben. Es ist gut, kleine Samen zu säen, spannende Filme zu gucken – von uns oder von Schulpreisträger-Schulen oder was es sonst noch alles gibt.
Dann kann man gucken, wo die Samen keimen und wo man sie vielleicht gießen kann und wo irgendwann eine Blume daraus wächst. Immer Stück für Stück die nächsten Schritte entstehen lassen. Das soll eine Ermutigung an alle sein, die jetzt dachten „Uiuiui, das ist aber ein ganz schön dickes Brett, von dem sie da redet.“
Danke für das Gespräch!
Judith Holle ist Sozialunternehmerin, Bildungsinnovatorin, Autorin und Geschäftsführerin bei beWirken. Das Sozialunternehmen hat die Mission, gemeinsam Veränderung in Schule zu bewirken. Mit diversen Angeboten begleiten sie sowohl Einzelpersonen aus dem Kontext Schule als auch Schulen als Ganzes auf ihrem individuellen Weg hin zu einer Bildung, die Menschen den Raum gibt, ihr Potential zu entfalten. Zur Website des Unternehmens.
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Hier kommen Sie zu den spannenden Filmen von beWirken UnLearn School Filme und zum Buch UnLearn School.