Der Wolf, den wir füttern…

Wir alle sind konfrontiert mit Gewalt und Grausamkeit in der Welt. Wir leiden darunter und wir sind auch Teil dessen. Wie können wir das Gute und Verständnisvolle in uns nähren und damit einen Unterschied machen?

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Ein Großvater sprach mit seinem Enkel über Gewalt und Grausamkeit in der Welt und wie es dazu kommt. Er antwortete, es sei, als würden zwei Wölfe in seinem Herzen kämpfen. Ein Wolf war rachsüchtig und wütend, und der andere Wolf war verständnisvoll und freundlich. Der junge Mann fragte seinen Großvater, welcher Wolf den Kampf in seinem Herzen gewinnen würde. Und der Großvater antwortete: „Das kann ich mitentschieden. Es wird derjenige gewinnen, den ich füttere.“

Vor dieser Entscheidung stehen wir alle, jeden Tag, jeden Moment.

Dieser Tage, im Angesicht neu aufflammender Konflikte im Nahost mit großer Tragweite bis in unseren Alltag in Deutschland, bekommt diese Entscheidung, welchen Anteil wir in uns nähren, für Menschen erneut eine größere Relevanz. Man hätte gedacht, dass Antisemitismus in Deutschland keinen Platz mehr habe, dass der Rechtsdruck und die AFD keine Chance hätten – und werden eines besseren belehrt.

Nicht wenige Lehrende sind im Schulalltag konfrontiert mit Kindern, die von zuhause Meinungen in die Gemeinschaft tragen, die von wenig Toleranz und viel Abgrenzung geprägt sind. Was taucht bei uns selbst auf, sind es Wut oder Hass, sind es Verurteilung oder Angst? Wie würde der verständnisvolle, freundliche Wolf reagieren?

Üben im Alltag

Und gleichzeitig braucht es gar keine globalen Krisensituationen, damit wir mit unserem inneren Zwiespalt konfrontiert werden. Der Alltag in Schule, Familie und sonstigem Umfeld reicht schon als Übungs- und Lernfeld aus, wenn wir uns z.B. bei Gefühlen von starker Wut oder wenig Empathie für andere ertappen.

Als Menschen haben wir das Potenzial, uns von alten Gewohnheiten zu lösen. Wir haben die Fähigkeit, „aufzuwachen“ und bewusst zu leben, aber wir kennen alle auch diese starke Neigung „weiterzuschlafen“. Je mehr wir uns mit Themen wie Achtsamkeit, Mitgefühl, Beziehung und Kommunikation beschäftigen, je tiefer wir eintauchen, verstehen und erleben, desto bewusster kann uns auch dieser innere Prozess werden.

Und umso überraschter und bisweilen auch frustrierter können wir sein, wenn wir bemerken, dass wir meist nur sehr langsam vorankommen, dass wir „vergessen“ oder uns ablenken lassen, dass wir scheinbar drei Schritte zurückgegangen sind und nur einen vorwärts. Wir können auch meinen, das uns die Achtsamkeitspraxis gar nicht so viel bringt oder das wir es einfach nicht richtig machen. Das ist völlig normal und in Ordnung. Es ist Teil des Prozesses und darf da sein. Achtsamkeit ist ein lebenslanger Übungsweg und kein Quick-Fix.

Es gibt aber auch ein entscheidendes Learning, das wir durch diese Erfahrung mitnehmen können: Dass dies menschlich ist, dass wir menschlich sind und es den anderen genauso geht. Vielleicht hat derjenige, auf den wir wegen seiner blöden Bemerkung gerade wütend sind, sich gestern Abend beim Einschlafen fest vorgenommen, endlich keine blöden Bemerkungen mehr zu machen – nimmt es sich jeden einzelnen Abend vor. Wer weiß das schon? Durch die Bewusstheit über unsere eigene Unzulänglichkeit und Nachsicht damit, können in uns Verbundenheit und Mitgefühl für andere wachsen.

Den Sprung wagen

Entscheidend ist, dass wir „dranbleiben“. Pema Chödrön, die wohl populärste Lehrerin des tibetischen Buddhismus und Autorin zahlreicher Bücher, lädt uns immer wieder ein zu wählen, welche Anteile wir in uns fördern möchten. Sie fordert uns auf, uns bewusst mit unseren Ängsten und negativen Denkgewohnheiten auseinanderzusetzen und gleichzeitig immer auch größer und systemisch zu denken.

„Das ist also unsere Herausforderung, die Herausforderung für unsere spirituelle Praxis und die Herausforderung für die Welt – wie können wir jetzt und nicht später trainieren, den richtigen Wolf zu füttern? Wie können wir unsere angeborene Intelligenz nutzen, um zu erkennen, was hilft und was weh tut, was die Aggression eskalieren lässt und was unsere Gutherzigkeit offenbart? Da die Weltwirtschaft im Chaos steckt und die Umwelt des Planeten gefährdet ist, da Kriege toben und das Leid zunimmt, ist es für jeden von uns an der Zeit, den Sprung zu wagen und alles zu tun, was wir können, um zur Wende beizutragen. Schon die kleinste Geste, den richtigen Wolf zu füttern, hilft. Mehr denn je stecken wir alle gemeinsam in dieser Situation.“ [1]

Für viele stellt die Achtsamkeitspraxis eine Möglichkeit zur Entspannung und einen Weg zu innerer Gelassenheit dar. Wir wollen uns ruhiger und konzentrierter fühlen, wer kann uns das in unserem hektischen und stressigen Leben verdenken? Dennoch haben wir heutzutage die Verantwortung, größer zu denken. Wenn die Praxis entspannend ist, wenn sie uns ein wenig Seelenfrieden gibt, ist das großartig – aber hilft uns diese persönliche Befriedigung dabei, uns mit dem auseinanderzusetzen, was in der Welt passiert?

Für den Umgang und unser Handeln im Alltag bedeutet das auch, wie wir die Haltung der Achtsamkeit nutzen, um Frieden und Mitgefühl zu stiften. Im Konflikt heißt dies am Ende: im Dialog zu bleiben. Einander Fragen zu stellen. Einander herauszufordern und anzuregen, sich selbst eine Meinung zu bilden – über Krieg, Recht und Unrecht, das gemeinsame Menschsein.

Das geht auch im Klassenzimmer oder beim Abendessen in der Familie. Was bewegt die Kinder, wie positionieren sich Jugendliche, wo stehen Kolleg*innen, Freunde und Freundinnen und wie kann man darüber sprechen, anstatt zu polarisieren und „nur“ seine Meinung zu vertreten? Lassen wir Fehler und Unzulänglichkeiten zu oder versuchen wir, immer alles richtig zu machen und diesen unrealistischen Perfektionismus auch von anderen zu erwarten.

Denn die Hauptfrage für jeden von uns ist doch: Leben wir auf eine Art und Weise, die noch mehr Aggression und Egozentrik mit sich bringt, oder bringen wir etwas in unser Umfeld, unsere Gesellschaft ein, das unterstützend, heilend und friedensfördernd ist. Wir sind kein „Opfer“ unseres Systems, unserer Kindheit oder unserer selbst. Wir können uns selbst ermächtigen, können mitentscheiden – und vor dieser Entscheidung stehen alle, jeden Tag, jeden Moment.

Sarina Hassine

[1] aus: Pema Chödrön. Den Sprung wagen: Wie wir uns von destruktiven Gewohnheiten und Ängsten befreien. Goldmann Verlag, 2012

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Wolf: Laurent Renault / photocase.de