Sarah Wiest

Die innere Welt des Kindes respektieren

Erfahrungsbericht von Sarah Wiest, Sonderschullehrerin und Montessoripädagogin

Für mich geht es darum, Kinder die Qualität von Achtsamkeit spüren zu lassen, erklärt Montessoripädagogin Sarah Wiest im Interview. Gezielten Übungen, bei denen die Kinder über ihre Gefühle sprechen, steht sie eher kritisch gegenüber.

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Das Gespräch führte Julia Grösch

Vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Achtsamkeitspraxis und ihrer Ausbildung zur Montessoripädagogin: wie hilft Ihnen persönlich die Achtsamkeitspraxis im Kontakt mit den Kindern?

Sarah Wiest: Ich merke, dass sie mir hilft, nicht gleich in eine Abwehrreaktion zu gehen, wenn ein Kind herausfordernd ist. Das passiert mir natürlich auch, aber ich habe doch gelernt, dass so ein Verhalten nicht gegen mich gerichtet ist.

Ich erlebe das bei Kolleginnen und Kollegen und auch bei mir, dass wir unter Stress schnell unterstellen „das Kind macht das absichtsvoll“. Da habe ich gelernt, Distanz zu schaffen und dann das Positive zu suchen. Ganz gut hilft dabei auch Humor.

Wie gehen Sie da vor?

Wiest: Nicht erst in meiner Montessori-Ausbildung, aber dort besonders habe ich gelernt, dem Kind, seiner Lebensgeschichte und seiner Situation in einer Haltung der Demut zu begegnen. Also versuche ich, wenn ein Kind beispielsweise sehr laut ist, etwas Positives zu unterstellen und nach dem Bedürfnis zu fragen, das gesehen sein will.

Gerade die lauten und aktiven Kinder wollen sich oft zeigen, sie wenden sich nicht vom Unterricht ab, sie wenden sich zu – nur nicht in der geeigneten Weise. Sie zeigen aber Aktivität und Bereitschaft.

Ich wehre mich gegen Übungen, die das Ziel haben, ein Kind „ruhig zu machen“

Dennoch stehen Sie der Idee, auch Kindern Achtsamkeitsübungen beizubringen, eher kritisch gegenüber. Können Sie das genauer erklären?

Wiest: Ich bin nicht grundsätzlich gegen Achtsamkeitsübungen in der Schule, aber ich wehre mich gegen Übungen, die das Ziel haben, ein Kind „ruhig zu machen“ oder „in das Kind einzudringen“. Über die Altersgruppe, mit der ich arbeite, also Kinder der ersten bis dritten Klasse, wissen wir entwicklungspsychologisch, dass sie in diesem Alter sehr angepasst sind, oft sogar überangepasst.

Und wenn ich ein solches Kind nach einer Übung frage, bei der klar ist, dass man sich danach gut oder ruhig fühlen soll, wird es nicht sagen „mir geht es gerade nicht gut“ oder „das war mir unangenehm“ oder „ich bin ganz wütend“. Diese Übungen geben einem Kind kein Werkzeug in die Hand, sich selbst zu spüren und auf ehrliche Weise mit sich in Kontakt zu treten.

Ich fürchte, dass es eher versuchen wird, meinen Wunsch nach angepasstem Verhalten zu erfüllen. Und das sehe ich sehr kritisch. Auch wenn vorab benannt wird, dass es verschiedene Gefühle und Wahrnehmungen geben kann, sehe ich die Gefahr, dass das Kind seine eigenen Empfindungen zugunsten der Erwartungen des Erwachsenen oder der Gruppe zurückstellt.

Hinter Ihrer Skepsis gegenüber von Achtsamkeitsprogrammen an der Schule steht also vor allem Respekt vor dem inneren Erleben der Kinder?

Wiest: Ja, ich bin da durch Maria Montessori geprägt. Sie hatte hohen Respekt vor der inneren Welt des Kindes, des Menschen überhaupt. In der Montessoripädagogik haben wir viele andere Möglichkeiten, Achtsamkeit zu üben und Kinder eher die Qualität von Achtsamkeit spüren zu lassen.

Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Wiest: Wir kennen viele Sinnesübungen, die als Achtsamkeitsübung in den Unterricht aufgenommen werden können. Wenn ich Stoffe fühle, Gerüche zuordne oder übe, Geräusche zu differenzieren, da kann ich die Sinne in den Vordergrund  stellen und sie zum Klingen bringen.

Und die Kinder werden bei solchen Übungen auf eine andere Art und Weise ruhig, weil sie genau hören wollen – sie richten ihre Aufmerksamkeit aus. Und genau das ist es, was wir in der Montessoripädagogik wollen, dass die Kinder ihre Aufmerksamkeit richten können. Das sind schöne Übungen, die sehr im Hier und Jetzt sind, und die dem kindlichen Wesen entsprechen.

Die Kinder sind oft hochkonzentriert dabei und es entsteht so eine ganz knistrige Atmosphäre.

Gibt es in der Montessoripädagogik weitere Ebenen, die Achtsamkeit fördern?

Wiest: Da gibt es jede Menge und auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise wenn wir die Lernmaterialien nutzen, tun wir das in einer Weise, die Achtsamkeit gegenüber dem Material ausdrückt.

Wir holen es in einer bestimmten Weise aus dem Regal, wir bauen es in einer bestimmten Weise auf, wir räumen es auch in einer bestimmten Weise wieder auf. Und zeigen dadurch auch eine Entschleunigung. Wir versuchen, Prozesse nicht so willkürlich machen, es sind eher viele kleine Rituale, die die Kinder dann nachvollziehen können.

Wenn ich beispielsweise drei Kindern das erste Mal die geometrischen Körper vorstelle, dann hole ich Pyramide, Kegel, Kugel und Quader auf eine bestimmte Weise auf den Teppich, nehme diese aus einem schönen Korb, fasse sie an, betrachte sie und spreche dabei zunächst nicht.

Konzentration, Aufmerksamkeit, Neugier

Die Kinder sind oft hochkonzentriert dabei und es entsteht so eine ganz knistrige Atmosphäre. Sie merken, da gibt es etwas zu sehen. Und wenn ich das präzise vorführe, dann sehe ich, können die Kinder danach auch präzise mit dem Material umgehen. Sie werfen es natürlich auch mal durch die Gegend, es ist ja auch nicht heilig, aber ich sehe, wenn ich es ruhig und sorgsam gemacht habe, dann springt diese Qualität von Achtsamkeit auf die Kinder über und sie gehen dann auch sorgsam mit den Materialien um.

Wir räumen das Material wieder auf, wir sorgen dafür, dass es ein anderer wieder benutzen kann. Und das ist eine tägliche Übung, wie ich finde, eine tägliche Achtsamkeitsübung. Das klappt nicht immer, ich bin auch nicht immer in Ruhe oder räume nicht alles immer weg, aber ich bin auf jeden Fall bewusst, dass ich ein Modell für die Kinder bin. Und ich übe mich darin.

In der Beschäftigung mit jedem Material steckt immer die Möglichkeit, zur Ruhe zu finden.

Sie vergleichen die Arbeit mit Materialen mit einer Meditation, bei der Kinder bei sich selbst ankommen – und Glück erleben. Was passiert da bei den Kindern?

Wiest: In der Beschäftigung mit jedem Material steckt immer die Möglichkeit, zur Ruhe zu finden. Das Kind ist dann im besten Fall ganz bei der Sache. Und versunken in sein Tun, es lässt sich nicht ablenken. Erst wenn es seine Handlung selbst beendet, kommt es wieder raus aus dieser Polarisation der Aufmerksamkeit – und ist glücklich.

Wenn ein Kind die Möglichkeit hat, so einzusteigen in eine Tätigkeit, dann ist es auch in Kontakt mit sich selbst. Und das ist dann wie eine Mediation. Das muss auch nicht versprachlicht werden, da muss es nachher nicht sagen „mir ging es gut“ oder „es hat sich so oder so angefühlt“ – sondern es spürt das!

Es spürt auch die Befriedigung, etwas Neues zu verstehen, dieses Glückgefühl kennen wir ja alle. Buchstaben ergeben plötzlich ein Wort, eine ungeordnete Reihe wird zu einer schönen Serie! Das zu genießen und es in Ruhe zu empfinden, ist Glück. Und in diesem Moment lassen wir die Kinder in Ruhe, wir gehen nicht auf sie zu, sondern respektieren das Glück, das sie in diesem Augenblick mit sich selbst haben.

Lernen die Kinder auf diese Weise, auch anderen achtsam und respektvoller zu begegnen?

Wiest: Ja, es kann dann auch auf der Beziehungsebene ein respektvolles Miteinander entstehen. In dem Moment, in dem ich den Raum habe, mit mir selbst zu sein, in dem ich Zeit geschenkt bekomme, kann ich auch anders mit anderen umgehen. Wenn ich diesen Schatz gesammelt habe, kann ich die Achtsamkeit, die mir entgegengebracht wurde, auch teilen. Das ist auf jeden Fall der hohe Wunsch!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sarah Wiest ist Sonderschullehrerin und Montessoripädagogin an der Wilhelm von Humboldt Gesamtschule Berlin.

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