Die Kraft der Geschichten

Geschichten wurden schon immer erzählt, denn sie helfen uns, Herausforderungen zu bewältigen und Erlebnisse einzuordnen. Wie Geschichten Kindern Sinn geben und wie wir sie achtsam beim Erzählen unterstützen können, erklärt Eltern-Coach Christopher End.

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Geschichten zu erzählen ist eine der ältesten Strategien, mit denen wir als Menschen unsere Erfahrungen verarbeiten und weitergeben. Erzählt wurde schon immer und an allen Orten. Dabei gibt es die persönlichen Geschichten, die uns selbst passiert sind und die fiktiven Geschichten, die vorgelesen, mündlich oder heute in Form von Filmen erzählt werden.

Der Mythenforscher Josef Campbell hat auf der ganzen Welt Sagen, Märchen und religiöse Erzählungen zusammengetragen – und dahinter eine gemeinsame Struktur entdeckt. Er nannte sie den Mono-Mythos, die Heldenreise. Die drei wichtigsten Abschnitte der Reise sind: Aufbruch, Prüfung und Rückkehr.

Die Erzählstruktur der Heldenreise wird auch heute noch verwendet, um spannende Romane oder Drehbücher zu entwerfen. Dabei ist sie viel mehr als eine Blaupause, um gute Geschichten zu erzählen. Die Heldenreise ist das Urmuster menschlicher Erfahrung – sie beschreibt, wie wir mit einer Herausforderung umgehen können und wie uns diese verändert.

Mit Geschichten Erlebtes einordnen

Viele Kinder erzählen von den Dingen, die sie erlebt und die sie beeindruckt haben. Eine achtsame, aufmerksame innere Haltung kann uns helfen, die großen und kleinen „Heldenreisen“ unserer Kinder zu bemerken und sie bei der Bewältigung ihrer Herausforderung zu begleiten.

„Ich hatte ja mal ganz viele Wunden“, sagt meine Tochter und ich nicke. Es geht um ihren Fahrradunfall. Ich nehme das auf, was sie sagt und schlage den Bogen zum Anfang der Geschichte: „Ja, auf dem Rückweg von der Kita bist du im Park den Berg runtergefahren und mit dem Rad gestürzt. Du hattest viele Wunden, die geblutet haben und dein Kleid war an vielen Stellen zerrissen.“

Der Unfall ist das Abenteuer. Schmerz und Leid treten plötzlich in den Alltag meines Kindes.

So oder so ähnlich könnten wir Erwachsenen auf das Erzählbedürfnis eines Kindes eingehen – indem wir aufmerksam und empathisch zuhören und dem Kind helfen, seine Geschichte zu erzählen.

In der klassischen Heldengeschichte nach Campell beginnt es mit dem Aufbruch: Die Heldin oder der Held verlässt seine gewohnte Umgebung. So erhält Harry Potter zu seinem zehnten Geburtstag per Eulenpost eine Einladung nach Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei.

Als nächstes folgt die Prüfung: Hier gilt es eine Gefahr zu überwinden oder Gegner:innen zu bezwingen. In Star Wars muss sich Luke Skywalker dem Imperator stellen.

Zum Schluss kehren die Held:innen zurück in ihren Alltag. Den Schatz, den sie dabei mitbringen, ist die Erfahrung, die sie gewonnen haben und die nun ihr Leben bereichert. Im Film Titanic kommt Rose beim Untergang des Schiffes in den Besitz des wertvollen Diamanten. Sie hält den Besitz des Steins jedoch geheim, der symbolische Wert ist für sie größer als der materielle – und sie führt von da an ein selbstbestimmtes Leben.

Dann erzähle ich meiner Tochter, wie die Geschichte mit dem Fahrradunfall weitergegangen ist: „Da du nicht mehr fahren konntest und es noch so weit bis nach Hause war, sind wir zu Meghan gelaufen, die in der Nähe wohnt. Zum Glück war sie da! Und sie hat uns geholfen und wir konnten deine Wunden versorgen.“

In der Sprache der Heldenreise ist unsere Freundin Meghan eine Retterin, eine Mentorin, eine Wegbegleiterin.

Meine Tochter nickt und ergänzt: „Und dann sind wir nach Hause zu Mama gefahren.“ Dieser Teil ist die Heimkehr.

Wichtige Zutaten für eine gute Kindergeschichte

Kinder brauchen eine Figur, mit der sie sich identifizieren können. Der Held oder die Heldin muss nicht unbedingt ein Mensch sein, auch eine kleine dicke Raupe mit viel Hunger kann eine charismatische Heldin abgeben (Die kleine Raupe Nimmersatt, Eric Carle).

Die zweite Zutat ist die Herausforderung, die Gefahr. Für ein Kind kann das der erste Tag ohne Mama in der Kita sein oder die Situation, wenn es von anderen ausgeschlossen wird.

Eine andere wichtige Zutat ist eng mit den ersten beiden verbunden: Wir wollen mit den Helden mitfühlen. Geschichten sprechen unsere Gefühle an und so fiebern wir mit, wenn Momo in Michael Endes gleichnamigem Kinderbuch der Übermacht der Grauen Herren gegenübersteht.

Geschichten sind ein guter Ausgangspunkt, um über Gefühle zu reden. Wir können Kinder fragen, wie sich die Heldin oder der Held der Geschichte wohl gerade fühlt oder einen Bezug herstellen zwischen dem Leben der Figur und dem des Kindes.

Die vierte Zutat ist der „Schatz“, den die Geschichte birgt. Welchen Sinn gibt die Erzählung den Ereignissen? Vor allem: Wird am Ende alles gut?

Was ist die Erkenntnis in der Fahrrad-Geschichte meiner Tochter? Gibt es einen „Sinn“? Meine Tochter macht mir eine Vorlage: „Die Wunden waren noch ganz lange zu sehen.“ Ich nicke und sage: „Ja, das stimmt, du hast lange Wunden gehabt und dann sind sie irgendwann alle verheilt. Oder ist noch was da?“

Sie schüttelt den Kopf und strahlt, dann läuft sie in ihr Zimmer und spielt weiter.

Die Erkenntnis könnte sein: Ich habe die Fähigkeit zu heilen. Selbst viele Wunden, die mich erschreckt haben, verschwinden irgendwann. Mein Körper kann sich selber heilen. Und wichtig ist auch die Erkenntnis: Es waren freundliche Menschen da, die mir dabei geholfen haben.

Kinder unterstützen ihre Geschichte zu erzählen

Zuerst braucht es vor allem ein aufmerksames Ohr für die Geschichten der Kinder: Welchen Teil der Heldenreise erzählt das Kind da und wie endet alles? Wir können Kinder dabei unterstützen das Erlebte zu integrieren, indem wir schauen, welchen Sinn die Erzählung bietet.

Das kann unter Umständen knifflig sein: Schnell sind wir dabei den Kindern unsere Interpretation der Situation mit auf den Weg geben zu wollen. Das dient nicht immer dem Kind.

Hilfreich ist es dann, an dieser Stelle besonders auf die eigene innere Reaktion zu achten: Wie geht es mir denn mit dieser Geschichte, was löst sie in mir aus und was interpretiere ich hinein? Mit einem kurzen Innehalten fällt es leichter, dem Kind den Raum zu geben zu erzählen, was es fühlt und welchen Sinn es selber sieht.

Und wenn es kein Happy End gibt? Nicht immer gehen die Geschichten unseres Alltags gut aus*.

Der dreijährige Paul hat sich in der Kita verletzt und so stark geblutet, dass der Notarzt gerufen wurde. Die Wunde war nur klein. Der eigentliche Schreck waren die hereinstürmenden Sanitäter samt Arzt.

Immer wieder erzählt Paul später von den „Medizinmännern“, die ihn mitnehmen wollten. Als die Eltern sehen, dass Paul das Erlebte mit Playmobilfiguren nachspielt, fragen sie ihn, wie die Geschichte anders ausgehen könnte, also so, dass das Playmobilkind weniger Angst hätte.

Paul schaut sich im Kinderzimmer um, holt ein paar Kuscheltiere und stellt sie um das Kind in seinem Spiel, als der Krankenwagen kommen. Die Kuscheltiere passen jetzt auf, dass der Arzt freundlich ist. Die Geschichte endet nun anders: Das Kind fühlt sich umsorgt und sicher. 

In diesem Beispiel kann die Erfahrung von Paul, sich alleingelassen und überwältigt zu fühlen, mit der Absicht der Eltern Sicherheit zu vermitteln, in der Geschichte und im Spiel integriert werden.

Christopher End

 

Anmerkung

*Bei Erlebnissen, die Kinder überfordern, eine Stressreaktion oder gar traumatisches Erleben auslösen, steht an erster Stelle das Kind zu beruhigen. Geschichten zu erzählen und das Erlebte so zu verarbeiten, folgt erst später, wenn Erregungszustände abgeklungen und sich das Kind wieder beruhigt hat.

Christopher End ist systemischer Coach und bietet in seiner Praxis Gesprächstherapie, Meditation und Eltern-Coaching (auch online) an. In seinen Podcast "Elterngedöns" läd er Gäste wie Nicola Schmidt, Inke Hummel, Nora Imlau, Mona Kino und Kathrin Hohmann ein. Außerdem gibt er selbst Impulse zum Elternalltag und stellt Meditations-Anleitungen bereit. 2020 erschien sein Buch "Der kleine Samurai findet seine Mitte - Eine Anleitung zum Meditieren mit Kindern". Mehr Infos finden Sie auf seiner Seite.
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  • Vater und Sohn Geschichten erzählen: behrchen / photocase.de
  • Christopher End: privat