Selma Polat-Menke

„Sehnsucht nach Einklang mit sich und der Welt“

Erfahrungsbericht von Selma Polat-Menke, Lehrerin und Achtsamkeitslehrerin

„Die Folgen der Pandemie haben den Druck in den Schulen noch erhöht. Erschöpfung ist vorprogrammiert.“ Dr. Selma Polat-Menke berichtet von ihren Erfahrungen mit Achtsamkeit in der Schule. Sie hat ihr eigenes Programm „Herzbeschirmt“ entwickelt.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das Gespräch führte Marika Muster

Kinder und Jugendliche sind heutzutage oft großem Druck und Stress ausgesetzt. Können Achtsamkeit und Mitgefühl Schüler:innen helfen, in unserer Gesellschaft trotzdem gesund zu bleiben?

Dr. Polat-Menke: Ich beobachte, dass viele Schüler:innen unter der Fehlerkultur unseres Bildungssystems leiden. So viele genügen, egal wie sehr sie sich anstrengen, laut Zensuren den Anforderungen nicht. Der Selbstzweifel nagt an ihnen. Oder die Kinder und Jugendlichen haben gute Noten, sind aber sehr selbstkritisch, versuchen perfekt zu sein und scheitern daran.

Die Folgen der Pandemie haben den Druck noch erhöht. Erschöpfung ist vorprogrammiert. Das gilt auch für die Wahrnehmung des eigenen Körpers und des Aussehens. Durch das ständige Vergleichen herrscht das Diktat der Selbstoptimierung. Zufrieden mit sich zu sein, ist schwierig in unserer Leistungsgesellschaft.

Wenn Schüler:innen das erkennen, ist es oftmals erst ein schmerzhafter Prozess und mit viel Widerstand verbunden. Sie haben es so gelernt und bekommen diese Haltung von den Erwachsenen vorgelebt.

Wenn sie dann z.B. im szenischen Spiel Selbstmitgefühl üben und sich selbst gegenüber den besten Freund spielen, können sie erkennen, wie viel wohlwollender sie mit anderen umgehen als mit sich.

Dann kommt der nächste Schritt, sich selbst gegenüber diese freundliche Haltung auch zuzugestehen. Am Ende dieser Entwicklung steht oft große Erleichterung und Freude, neue Motivation und Zuversicht.

Ich spüre bei vielen Menschen eine große Sehnsucht.

Wie reagieren Schüler:innen auf das Achtsamkeitstraining?

Polat-Menke: Erst habe ich einige Übungen aus Büchern zu Beginn der Unterrichtsstunde ausprobiert. Das funktionierte mal mehr mal weniger gut. Ich musste erst meine Art der Vermittlung finden. Die Klasse hat es trotzdem gut angenommen. Das hat mich ermutigt.

Viele Schüler:innen sind dankbar und freuen sich, dass sie Zeit für Achtsamkeit bekommen. Die meisten sagen, dass sie sich dadurch besser konzentrieren können und gelassener sind.

Das zeigen auch viele wissenschaftliche Studien. Es ist ja nicht so, dass sie sich nicht konzentrieren wollen, es hat ihnen aber keiner beigebracht, wie man das macht. „Konzentrier dich mal“ ist ein inhaltsleerer Satz.

Dann wollte ich mehr als nur fünf Minuten in meine Unterrichtsstunde integrieren, also habe ich zusätzlich eine Arbeitsgemeinschaft nachmittags angeboten. Daraus hat sich mein eigenes Programm entwickelt, das ich „Herzbeschirmt“ nenne.

Lernen ist ein Bedürfnis, es braucht aber Wohlbefinden statt Angst und Wettbewerbsdruck.

Wie arbeiten Sie mit den Kindern, welche Art Übungen nutzen Sie im Unterricht?

Polat-Menke: Je jünger die Kinder sind, desto bildhafter arbeite ich. Mit allen Sinnen und Kreativität. Ich habe zum Beispiel gemeinsam mit der Studierenden Imke Ahrens ein Herzbeschirmt-Lied mit Bewegungen für Grundschüler:innen entwickelt. Mit allen Altersgruppen bastel ich in Stille, in die ich Forscherfragen gebe.

Oder ich spiele Musikstücke an und frage, was diese mit ihnen machen – auch hier geht es um Selbstreflexion. Szenisches Spiel oder Gedichte eignen sich auch gut, um die Haltung der Achtsamkeit nachhaltig zu verinnerlichen.

Und ganz klassisch kommen vor Ess-Meditation, Achtsamkeit in Bewegung, Beobachtungen von Gedanken und Emotionen und der Umgang mit unangenehmen Erfahrungen.

Der Ursprung von „Herzbeschirmt“: Das chinesische Schriftzeichen für „Achtsamkeit“ ist ein Piktogramm, welches den „gegenwärtigen Augenblick“ darstellt, der das Symbol für „Herz“ beschirmt.

Welche Übungen bieten Sie Schüler:innen an, die das Wohlbefinden positiv beeinflussen können?

Polat-Menke: Die Kinder und Jugendlichen sammeln zum Beispiel Wohlfühlmomente, halten sie mit einem Foto fest und bringen sie mit. Das können, ja sollen sogar kleine Dinge sein wie ein Sonnenstrahl, das Plätschern von Wasser, eine Zitronenscheibe im Glas oder ein zwitschernder Vogel.

Wenn sie dann darüber berichten, was dieser Moment in ihnen ausgelöst hat, ist das ein magischer Moment, und auf den Gesichtern erscheint ein Lächeln.

Da ist erneute Freude und Mitfreude über die Freude der anderen. Sie ist das Gegengewicht zu Neid und Eifersucht.

Oder man übt den Fünffinger-Dank, also zählt fünf Dinge auf, für die man dankbar ist. Das kann man in der Schule, aber auch abends vor dem Einschlafen machen.

Solche Übungen sind sehr wichtig, weil unser Gehirn eine Negativtendenz hat, wie Rick Hanson es beschreibt, aus dessen Programm Positive Neuroplastizität diese Übungen entlehnt sind. Wir sind nicht zum Glücklichsein gemacht, sondern zum Überleben, erklärt er.

Daher dauert es drei Minuten, bis positive Erlebnisse nachhaltig verankert werden, während wir uns negative Erlebnisse blitzschnell merken. Das war in der Evolution überlebensnotwendig. Wir schaffen also ein positiv aufgeladenes Gegengewicht mit diesen Übungen.

Wie wirkt die Achtsamkeitspraxis auf Sie – privat und in Ihrer Rolle als Mutter und Lehrerin?

Polat-Menke: Die Achtsamkeit hilft mir, ganz bei mir zu sein, anstatt „außer mir“. Ich bin präsenter und verständnisvoller. Mein Denken, Sprechen und mein Tun sind mehr im Einklang mit meinen Werten. Das spürt meine Familie und natürlich spüren das auch meine Schüler:innen.

Ohne Achtsamkeit nehme ich Dinge schnell persönlich. Eltern und Lehrer:innen sind oft eine Angriffsfläche für Kinder und Jugendliche, um sich auszuprobieren.

Wenn ich achtsam innerlich einen Schritt zurücktrete, dann erkenne ich, dass es nicht um mich geht, sondern darum, dass mein Gegenüber gesehen werden möchte. Ich höre dann die Botschaft dahinter und reagiere hilfreicher, als wenn ich mich gekränkt fühle.

Oder ich nehme wahr, in welcher Verfassung ich gerade bin und was ich brauche, um ausgeglichen zu sein. Wenn ich freundlich mit mir umgehe, kann ich auch freundlicher und offener meinen Mitmenschen begegnen. Die Qualität der Beziehungen in der Gemeinschaft ändert sich.

Mein großer Wunsch ist, dass sich viele Kolleg:innen und auch Schulleitungen  Achtsamkeit als Haltung zu eigen machen.

Was wünschen Sie sich für die Schulen von morgen?

Polat-Menke: Es braucht meiner Meinung nach eine Mutkultur im Bildungssektor. Wir wissen längst, dass es nicht zielführend ist, dass alle Schüler:innen zur gleichen Zeit im gleichen Tempo dieselben Inhalte in großen Gruppen lernen sollen. Das führt so häufig zu Stress.

Nachhaltiges Lernen kann dann geschehen, wenn Menschen sich wohlfühlen – mit sich und in der Gemeinschaft. Dafür bedarf es der Kompetenz, sich selbst achtsam wahrzunehmen und freundlich wohlwollend mit sich umzugehen. Das hat Folgen für den Umgang mit der Gemeinschaft und auch für das Verinnerlichen von Fachwissen.

Ein Begriff wie „Wellbeing“, den auch Bildungsforscher proklamieren, sollte in der Schulkultur und auch im Schulgebäude ernsthaft umgesetzt werden. Dann kann Lernlust entstehen. Der Deutsche Schulpreis nominiert jährlich Schulen die sich auf den Weg machen raus aus alten Strukturen.

Mein großer Wunsch ist, dass viele Kolleg:innen und auch Schulleitungen sich Achtsamkeit als Haltung zu eigen machen und Achtsamkeitsübungen im Klassenzimmer anwenden, so dass viele Schüler:innen, die ganze Schulgemeinschaft davon profitiert.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dr. Selma Polat-Menke ist Gymnasiallehrerin und arbeitet seit über 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Kontexten. Sie setzt Achtsamkeitsübungen im Unterricht ein, leitet eine Achtsamkeits-AG in der Schule und vermittelt ihr eigenes Herzbeschirmt – Achtsamkeitscurriculum auch außerschulisch an Kinder. Mehr über ihr Programm erfahren Sie hier.

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  • Selma Polat-Menke: Felicitas Horstschäfer
  • Achtsamkeit Chinesisches Zeichen: privat