Kürzlich brach meine Tochter weinend zusammen. Ihr Pfadfinder-Treffen, das nach sechs Wochen Pause endlich wieder einmal stattfinden sollte, musste 15 Minuten vor Beginn abgesagt werden. Einige Betreuer hatten Kontakt gehabt zu Corona-Infizierten und mussten sich direkt isolieren.
Sie weinte sehr und war enttäuscht und wütend zugleich. Obwohl ich genau diese Reaktion erwartet hatte, war es schwer für mich, das auszuhalten. Meine Tochter tat mir so leid. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie doch bitte aufhören möge zu weinen. Der Gedanke war hartnäckig und kam immer wieder.
Meine Achtsamkeitspraxis half mir dabei, diesen Gedanken einfach da sein zu lassen – und meiner Tochter in ihrer Trauer zur Seite zu stehen. Ich versuchte nicht, ihr die unangenehmen Gefühle zu ersparen oder sie davon abzulenken. Ich reichte ihr diesmal also nicht einen „Regenschirm“, um sie vor dem Sturm der Gefühle zu bewahren. Manchmal wird man einfach nass, und dann versuche ich, bei ihr zu sein.
Der Zauber-Regenschirm für meine Tochter ist für gewöhnlich Fernsehen. Das hilft zuverlässig, um äußerliche Ruhe und den Schein zu erzeugen, dass alles wieder in Ordnung ist. Woher ich das weiß? Sie fragt häufig danach, wenn es ihr schlecht geht. Und manchmal akzeptiere ich so eine Ablenkung auch, solange sie nicht zu einem Automatismus oder einer Dauerlösung wird.
Sie weinte, und ich erlaubte ihr ausdrücklich, enttäuscht zu sein und zu weinen, so viel sie wollte.
Aber meistens reiche ich ihr keinen Regenschirm, sondern stelle mich mit ihr in den Sturm. In dieser bestimmten Situation war ich bei ihr, streichelte ihr über den Kopf und begleitete sie mit Verständnis und Mitgefühl. Sie weinte, und ich erlaubte ihr ausdrücklich, enttäuscht zu sein und zu weinen und zu klagen, so viel sie wollte.
Irgendwann wurde sie ruhiger, obwohl die Gefühle noch da waren. Aber der Regenguss hatte aufgehört. Im Laufe der nächsten zwei Tage übermannten sie die Traurigkeit und Enttäuschung immer wieder. Jedes Mal gab ich ihr Raum und Verständnis, und jedes Mal wurde der Sturm ein kleines bisschen weniger heftig.
Ohne die Achtsamkeitspraxis und die vielen Gelegenheiten zum Üben, „Scheitern“ und Neu-Beginnen, würde ich immer noch meinen Gedanken glauben, die da sagen: „Ja, jetzt ist auch mal gut! Es ist halt so, ich kann ja auch nichts dafür!“
Ich würde die Tränen meiner Tochter persönlich nehmen und mich hilflos und verunsichert fühlen. Ich würde versuchen, ihr Weinen zu stoppen, damit es mir nicht so schlecht geht, wenn ich sie so sehen muss.
Meine Tochter ist mir sehr ähnlich im Charakter und so wie ich fühlt sie ihre Gefühle sehr stark. Allerdings habe ich früh gelernt, meine Gefühle zu unterdrücken, wenn sie für andere unangenehm waren. Auch heute ist es noch schwierig für mich, Tränen oder Wut auszuhalten. Das Muttersein triggerte früh in mir Gefühle, die ich erfolgreich (aber unbewusst) aus meinem Leben ausgeschlossen hatte. Und nun war da dieses kleine wunderschöne Wesen, das alle meine Schatten zu kennen schien.
Auf der Suche danach, eine bessere Mutter zu sein, lernte ich mit Achtsamkeitspraxis einfach ich zu sein.
Auf der Suche danach, eine bessere Mutter zu sein, fand ich mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis den Weg, einfach ich zu sein. So konnte ich in den letzten Jahren vieles erkennen, hinterfragen und sogar heilen. Und je mehr ich auch in schwierigen Momenten für mich selbst da sein konnte, desto mehr konnte ich auch meine Tochter sein lassen, wie sie ist.
Nein, es ist nicht einfach. Der Umgang mit den Tränen des eigenen Kindes ist herausfordernd, und die Gedanken kommen trotzdem unbeirrt. Ich versuche, ihnen nicht zu glauben und sie einfach im Hintergrund weiterschnattern zu lassen.
Es ist nicht leicht, aber es ist ungemein spannend, lehrreich und verbindend, wenn ich einfach für mein Kind da sein kann, besonders wenn es gerade leidet. Und das wiederum ist die Belohnung dafür, dass ich mich mit ihr in den Sturm stelle und sie ihren Tränen freien Lauf lassen kann. Sie lernt dabei, dass es keine falschen Gefühle gibt, dass nichts unterdrückt werden muss und dass sie auch solche Erfahrungen durchstehen kann. So entstehen Selbstvertrauen und Resilienz und ein Grundgefühl von „Ich kann das.“
Ich lerne in solchen Momenten, mit dem Unangenehmen zu sein, die bewertenden Gedanken unverrichteter Dinge wieder gehen zu lassen und trotzdem verbunden zu bleiben. Gefühle sind da, um gefühlt zu werden – da ist es egal, wie alt man ist.
Berenice Boxler ist Achtsamkeitslehrerin und Autorin in Luxemburg. Auf ihrer Webseite veröffentlicht sie regelmäßig Artikel zum Thema Achtsamkeit. Dort gibt es auch zahlreiche Meditationen (auch speziell für Eltern) zum freien Download. Für das Arbor Online Center hat sie einen Selbstlern-Kurs erstellt: „Ein innerer Kompass – Achtsamkeit für Eltern“. Mehr Informationen hier