Das Gespräch führte Christina Raftery
Prof. Sandbothe, wie geht es Ihnen gerade mit dem Home-Schooling Ihrer Kinder?
Mike Sandbothe: Zum einen ist es eine schöne Situation, wieder etwas mehr von dem mitzukriegen, was unsere Kinder in der Schule lernen. Gesamtgesellschaftlich ist es natürlich schwierig und aufgrund meines hohen Lehr- und Forschungs-Deputats als Hochschullehrer auch persönlich herausfordernd. Wir nutzen das Privileg des Home Office und planen den Alltag um. Das Motto lautet derzeit „slow down“ und „less is more“.
Im Sinne der Achtsamkeit auch ein gutes Lebensmotto. Für die deutschsprachige Hochschullandschaft haben Sie mit Ihrem Jenaer Kollegen Reyk Albrecht und Ihren Netzwerkpartnern ein eindeutiges „More“ geschaffen: die Initiative „Achtsame Hochschulen“.
Sandbothe: Die Plattform gibt uns die Möglichkeit, Entwicklungen und Modelle zu präsentieren und als Institutionen zu interagieren. An die 400 Hochschulangehörige von circa 100 Hochschulen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich bereits verbunden, um gemeinsam ein evidenzbasiertes Achtsamkeits-ABC für Hochschulen zu etablieren.
Es fällt auf, dass darunter viele in den neuen Bundesländern angesiedelte Hochschulen sind: Neben Ihrem eigenen Wirkungsort, der Ernst-Abbe-Hochschule Jena auch Leipzig, Weimar, Ilmenau, Dresden, Erfurt.
Sandbothe: Ja, ein spannendes Phänomen. Ich würde schon von offeneren Strukturen sprechen, die aber auch eine Herausforderung sind. In Gesprächen mit meinem Münchner Kollegen Andreas De Bruin beneide ich ihn fast ein wenig um den traditionell religiösen Hintergrund in seinem Bundesland Bayern – dort scheint es mit dem Begriff „Spiritualität“ kein Problem zu geben.
An meinem Standort Thüringen verhält sich das anders. Wenn wir hier mit spirituellen Traditionen kommen, stehen wir sofort unter Weltanschauungsverdacht. Hier ist es wichtig, Achtsamkeit genuin säkular zu praktizieren und umzusetzen. Auf gewisse Weise kann ich das auch nachvollziehen, weil sich die moderne Wissenschaft ja gerade in Abgrenzung von der kirchlichen Vormacht konstituiert hat.
Was die säkulare Achtsamkeit betrifft. In welcher Hinsicht gibt es in den neuen Bundesländern ihr gegenüber eine offenere Haltung?
Sandbothe: Das Neue daran ist reizvoll: Die Strukturen sind noch nicht so fest etabliert, es gibt mehr Spielraum für Ideen. Die weltanschaulichen Grenzen bezüglich der Spiritualität habe ich immer anerkannt und letztlich auch begrüßt. Es gibt beim Thema Achtsamkeit ja großartige säkulare Ansätze und ein breites Spektrum neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Das macht sie umfassend praktikabel.
Im 21. Jahrhundert zählt nicht nur Wissen, sondern die intelligente Verbindung zum Handeln.
Und zum Ausgangspunkt für Veränderungen im Hochschulsystem?
Sandbothe: Im 21. Jahrhundert kann Achtsamkeit als Alphabetisierungsmaßnahme für moderne Bildungssysteme funktionieren. Wir arbeiten an einem Achtsamkeits-Alphabet, das nicht im Widerspruch zu den säkularen Bildungspraktiken moderner Demokratien steht, sondern deren Selbstverständnis sogar stärkt.
Die größte Herausforderung für das System Hochschule, wie ich es in Deutschland erlebe, liegt in seiner überbordenden Standardisierung von auswendig zu lernendem Wissen. Von hier aus gilt es, zurück zu individuellen Bildungswegen zu finden.
Während die Schule überwiegend Sozialisierungsaufgaben wahrnimmt, sollte die Hochschule im Humboldt’schen Sinne personalisieren. Das leistet sie heute nicht mehr. Stattdessen setzt sie das in der Schule etablierte Trichtermodell mit immer mehr Stoffaufnahme fort.
Im 21. Jahrhundert zählt nicht nur Wissen, sondern die intelligente Verbindung zum Handeln. Wir haben so viele Daten gesammelt, aber verhalten uns nicht entsprechend. „I want you to panic“: Das sagt Greta Thunberg mit Blick auf den Klimawandel durchaus zu Recht.
Es fehlt an unseren Hochschulen also nicht nur an Individualisierung, sondern auch an der Vermittlung eines mutigen und handlungsbereiten Demokratiebewusstseins, das über bloßes Wissen und horizontales Datensammeln hinaus in Richtung einer aktiven Menschheitsverantwortung geht. Das wird schon für die heutigen Führungskräfte und noch mehr für die Führungskräfte der Zukunft dringend benötigt.
Wir brauchen individuelle, soziale, systemische und ökologische Achtsamkeitsübungen.
Wie könnte die achtsame Hochschule des 21. Jahrhunderts denn konkret aussehen?
Sandbothe: Für kooperatives Handeln in disruptiven Zeiten braucht es – das wird uns allen durch Pandemie und Klimakrise deutlich – eine neue Generation von Akteuren mit „open mind“, „open heart“ und „open will“. Eine Neudefinition von Führung, die mutig Neues gestaltet und befähigt, zugunsten globaler Verantwortung über die eigenen Machtstrukturen hinaus zu denken und letztlich Macht abgeben zu können.
In der achtsamen Hochschule wird die horizontale Faktensammlung durch das ergänzt, was der MIT-Managementforscher Claus Otto Scharmer „vertikale Bildung“ nennt. Zu diesem kraftvollen Kanon gehören individuelle, soziale, systemische und ökologische Achtsamkeitsübungen. Das wird in den Mindful-Leadership-Programmen vieler globalen Unternehmen schon seit längerem nachgefragt und angeboten. Leider lernt es kaum jemand im Studium. In den Hochschulen gibt es da einen ziemlichen Nachholbedarf.
Auf welche Weise kann die Achtsamkeit ein Schlüssel dazu sein?
Sandbothe: Inspiriert von Jon Kabat-Zinns Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) sowie vom Social Presencing Theater (SPT), das von Otto Scharmer und Arawana Hayashi entwickelt wurde, haben wir ein achtsames Bildungsalphabet destilliert. Daraus ist eine Seminarstruktur entstanden, die allen Hochschulangehören – Lehrenden, Studierenden und Verwaltung – ihren Bedürfnissen entsprechende Formate bietet.
Dem individuellen Kultivieren von klassischen Achtsamkeitsübungen wie Sitz- oder Gehmeditation, achtsames Yoga und Bodyscan sind die sozialen Achtsamkeitsübungen gleich gestellt.
Daher haben wir die Dyadenform aufgewertet und arbeiten zum Beispiel zusätzlich zum individuellen Body Scan auch mit einer Praxis, die wir Social Body Scan nennen. Sie erlaubt uns, den sozialen Körper und den Erdkörper, d.h. die ökologische Perspektive in die Achtsamkeitspraxis zu integrieren.
Dazu hat uns die Theorie U von Otto Scharmer inspiriert. Mit seinen Konzepten für die Universität des 21. Jahrhunderts, die sowohl individuelle Selbstentfaltung durch Achtsamkeit und öffentliche Verantwortung für die Transformation dysfunktionaler Systeme umfassen, ist Scharmer aus meiner Sicht so etwas wie ein neuer Humboldt.
Was wir etablieren wollen, ist eine Achtsamkeitsbrücke. Sie kann an unseren Hochschulen als methodischer Übergang dienen. Über diese Brücke lässt sich der nicht immer leicht zu gehende Weg von der horizontalen zur vertikalen Variante von Bildung erfolgreich beschreiten.
Der neugierige Geist ist in der modernen Hochschule als Bildungsziel gesetzt. Aber die sozialen Technologien, die seine Entwicklung fördern und den kognitiven Bereich mit den emotionalen, motivationalen und voluntativen Kräften von Herz und Bauch verbinden, werden kaum genutzt. Das wird sich – so hoffen wir – zeitnah ändern. Viele Kolleginnen und Kollegen an den Hochschulen arbeiten bereits daran.
Vielen Dank für das Gespräch!
Mike Sandbothe arbeitet als Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Zuvor hat er als Hochschuldozent für Medienkulturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und als Professor für Medienphilosophie an der Universität der Künste Berlin sowie dem Ålborg Universitetscenter gelehrt. Der Gründer der überregionalen Kooperationsplattform Achtsame Hochschulen ist zertifizierter Trainer für Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat Zinn und hat eine Ausbildung in der Feldenkrais-Methode absolviert. Von 2015 bis 2019 hat er das Innovationsprojekt Gesundes Lehren und Lernen und das Thüringer Modellprojekt Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft geleitet. Seit 2021 gehört er zum Team des Erasmus+ Programms Training Embodied Critical Thinking und ist Geschäftsführer von Achtsam.Digital.
Weitere Informationen
Hier kommen Sie auf die Seite des Projekts „Achtsame Hochschulen“.
Hier finden Sie weitere Informationen zum „Thüringer Modell“.