Niko Kohls

Kaum Zeit für eine Viertelstunde Achtsamkeit

Der Medizinpsychologe Niko Kohls von der Hochschule Coburg erzählt, wie Achtsamkeitsprogramme in den Schulalltag kommen. Ein Interview über Forschung und sinnvolle Anwendung.

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Das Gespräch führte Dr. Stefanie Uhrig

Dr. Kohls, Sie haben vor kurzem ein Programm untersucht, das Stress bei Lehrkräften reduzieren soll. Worum ging es da genau?

Dr. Niko Kohls: Das war eine Studie dem achtsamkeitsbasierten Programm „AISCHU“, Achtsamkeit in der Schule, von Vera Kaltwasser. Wir hatten uns das Programm schon früher bei Schülerinnen und Schülern angesehen. Da war es naheliegend, es auch für Lehrkräfte anzubieten. Vor allem, weil wir beobachten, dass die Belastungen sehr hoch sind und leider mitunter zu Burnout-Erkrankungen führen, und viele Lehrkräfte früher in Rente gehen. Die Idee war es, im Rahmen einer Weiterbildung ein paar Möglichkeiten zur Stressbewältigung und einen anderen Umgang mit dem schulischen Alltag zu vermitteln.

Lehrkräfte haben hohe Belastungswerte, die als Risikoindikator für chronischen Stress gelten können.

Wir haben 36 Lehrerinnen und Lehrern in die Studie eingeschlossen und den gefühlten Stress vor und nach dem Kurs gemessen. Was mich nachdenklich gemacht hat: Gerade zu Beginn hatten die teilnehmenden Lehrkräfte hohe Belastungswerte, die als Risikoindikator für chronischen Stress gelten können – obwohl die Teilnehmenden mit Anfang 40 im Schnitt noch recht jung waren und die Studie noch vor Beginn der Corona-Pandemie stattfand.

Hat die AISCHU-Weiterbildung geholfen?

Kohls: Wir haben tatsächlich recht große Effekte gesehen, die Belastungswerte sanken deutlich. Das ist eine gute Nachricht, denn das Programm ist einfach umzusetzen. Teile davon kann man wahrscheinlich sogar gut digitalisieren. Am meisten profitierten übrigens die Teilnehmenden, die noch kaum Achtsamkeitserfahrungen hatten.

Allerdings sprechen wir hier über eine Pilotstudie mit einigen Einschränkungen. Wir haben zum Beispiel nur recht wenige Personen untersucht, außerdem gab es keine Kontrollgruppe.

Was bedeutet das für die Ergebnisse?

Kohls: Ohne Kontrollgruppe können wir nicht abschließend sagen, wie effektiv das Programm wirklich ist. Dazu müssten wir die Ergebnisse von Teilnehmenden etwa mit Personen vergleichen, die auf einer Warteliste stehen und im Studienzeitraum kein Training bekommen. Das ist vielleicht ein nächster Schritt, um die ersten positiven Befunde genauer zu untersuchen.

Außerdem wäre es spannend, ob die Effekte auch längere Zeit nach der Studie anhalten. Ändern die Teilnehmenden ihren Lebensstil und praktizieren weiter, was sie gelernt haben? Oder gehen sie nach Ende des Programms in ihren gewohnten Kontext und die alten Stresswerte sind nach ein paar wieder da? Wir wissen es noch nicht.

Lehrkräfte brauchen auch im Arbeitsalltag eine Kultur der Achtsamkeit. Das hängt nicht alles am Individuum.

Bei anderen Programmen haben wir gesehen, dass die Effekte besonders gut erhalten bleiben oder sich sogar noch verbessern, wenn die Teilnehmenden in Gruppen von Interessierten gemeinsam weiter an der Achtsamkeit dranbleiben. Das geht schon durch niederschwellige Achtsamkeitstechniken, wie eine Minute der Stille vor einem Meeting. Auf die Schule übertragen brauchen die Lehrkräfte auch im Arbeitsalltag eine Kultur der Achtsamkeit. Das hängt nicht alles am Individuum.

Also bräuchte es eine Mischung aus eigener Achtsamkeit und struktureller Veränderung?

Kohls: Genau. In der Gesundheitsförderung werden wir oft als post-kapitalistische Restfunktionsveredler gesehen, die Menschen möglichst arbeitsfähig und zufrieden halten sollen, anstatt die Strukturen und die Arbeitsdichte und -verhältnisse anzusehen. Man könnte am Personalschlüssel drehen, die Klassen kleiner machen, und so weiter.

Achtsamkeit stärkt das Individuum, so dass es die Strukturen auch eher infrage stellen und kritisieren kann.

Und es stimmt, Unternehmen machen oft lieber Stressbewältigungstraining, als ihre Abläufe kritisch zu betrachten. Aber ich würde sagen, es ist nicht falsch, Leuten Resilienz beizubringen – für eine bessere Selbstregulation, nicht, um immer widerstandsfähiger zu werden. Denn das hilft, die eigenen Belastungsgrenzen zu erkennen, sie ernst zu nehmen, zu akzeptieren und auch wertzuschätzen. Die Achtsamkeit stärkt das Individuum, so dass es die Strukturen auch eher infrage stellen und kritisieren kann.

Im Schulsystem gibt es einen großen Reformbedarf. Die Frage ist: Ist es wirklich geeignet, um Leute zum selbstkritischen und selbstreflektierten Handeln zu befähigen? Und inwiefern ist das überhaupt gewollt? Wie viel Freiheit haben Lehrkräfte, das zu unterrichten, was sie für wichtig erachten? Bei den strikten Lehrplänen ist häufig gar keine Zeit für eine Viertelstunde Achtsamkeit.

Kann theoretisch jede Lehrkraft, jede Schülerin und jeder Schüler Achtsamkeit lernen?

Kohls: Damit auseinandersetzen kann sich jede interessierte Person. Auf das eigene Training bezogen, verspürt man ungefähr nach vier bis zwölf Wochen Effekte, wenn man täglich eine Viertelstunde Achtsamkeit trainiert. Dann haben sich auch nachweislich die Gehirnstruktur und -aktivität verändert, etwa in Bereichen, die mit der Emotionsregulation zu tun haben.

Bei der Teilnahme an Programmen sollte man aber bei Menschen genauer hinsehen, die psychisch nicht so stabil sind. Bei nicht zu schweren depressiven Episoden funktionieren achtsamkeitsbasierte Interventionen zum Beispiel sehr gut, da kann es sogar als Zusatz zur Psychotherapie empfehlenswert sein. Andererseits gibt es auch ernsthafte psychische Störungen und Belastungssituationen, bei denen man mit Achtsamkeit allein nicht weiterkommt.

Die Lehre setzt ein höheres Verständnis von Achtsamkeit voraus, um auch in schwierigen Situationen in der Gruppe richtig zu reagieren.

Wichtig ist immer, wer die achtsamkeitsbasierten Programme durchführt. Das sollten unbedingt Menschen sein, die mehr Erfahrung mitbringen als nur einen zweitägigen Achtsamkeitskurs. Die Lehre setzt ein höheres Verständnis voraus, dazu gehört schon Selbsterfahrung, um auch in schwierigen Situationen in der Gruppe richtig zu reagieren. Wer unterrichten will, sollte vorher mindestens ein bis drei Jahre lang Achtsamkeit praktiziert haben und idealerweise eine strukturierte Ausbildung zum Achtsamkeitslehrenden machen.

Dann bleibt die Frage: Wer meldet sich zu solchen Programmen an? Meist sind es Leute, die ohnehin Achtsamkeit lernen oder vertiefen wollen, oder Menschen, die besonders gestresst sind und etwas dagegen tun wollen. Aber sind das diejenigen, die am meisten davon profitieren würden? Eigentlich wäre es wohl eher hilfreich für Personen, die bisher keine Erfahrung damit gemacht haben.

Das spricht dafür, Achtsamkeit bereits als integralen Bestandteil der Lehrer:innenausbildung anzusehen, wie es beispielsweise in München durch meinen geschätzten Kollegen Prof. Dr. Andreas de Bruin mit dem „Münchner Modell“ erfolgt.

Ab welchem Alter ist Achtsamkeitstraining überhaupt sinnvoll?

Kohls: Bei Yoga im Kindergarten bin ich skeptisch, weil bestimmte neuroanatomische Strukturen noch nicht so weit entwickelt sind, dass die Kinder wirklich ihre Achtsamkeit fokussieren können. In der Regel ist mit etwa zehn Jahren ein guter Zeitpunkt, sie an das Thema heranzuführen. Dann kann man allmählich immer etwas mehr beibringen.

Hochschulen arbeiten überwiegend mit Studienanfängern, die 17 bis 22 Jahre alt sind: In dem Alter haben sie eine Basis, um es wirklich nachzuvollziehen, was sie da tun. Durch frühe Interventionen bekommen sie die Werkzeuge an die Hand, um den Aufbau von chronischem Stress zu verhindern. Und sie lernen, dass nicht nur sie sich verändern müssen, sondern es auch auf die Atmosphäre ihrer Umgebung ankommt. Auch dies gilt es, achtsam wahrzunehmen.

Können Achtsamkeitsprogramme eigentlich auch selbst Stress auslösen?

Kohls: Das kann passieren. Wenn man es übertreibt und zu einer Art Prediger wird, ist das ungünstig. Man sollte vermeiden, Leute durch „Achtsamkeitstüren“ zu schubsen. Wir können das Angebot machen, aber mehr auch nicht. Da gibt es im Schulalltag einige ungeklärte Fragen: Führt die Lehrkraft das Training durch? Ist es dann verbindlich für alle und wird zu einem gewissen Zwang? Externe Trainer:innen hingegen haben keine langfristige Interaktionsqualität mit den Schülerinnen und Schülern.

Solche Punkte sind nicht ganz einfach zu adressieren, aber dafür kann man Lösungen entwickeln – vor allem, wenn die Schulleitung und das Kollegium es unterstützt, wenn die Eltern einbezogen werden und man es nicht übertreibt. Schulen sind immerhin keine Meditationsenklaven. Vielmehr geht es darum, die Entwicklung von jungen, interessierten und reflektierten Menschen zu fördern, die Interesse an einer kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dr. Niko Kohls ist habilitierter Medizinpsychologe und Professor für Gesundheitswissenschaften mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg. Mit dem Thema Achtsamkeit und anderen verwandten Gebieten beschäftigt er sich seit mehr als 25 Jahren als Wissenschaftler und Berater. In seinen Studien untersucht er beispielsweise, wie Achtsamkeit im Alltag helfen kann. Im Frühjahr 2022 erscheint sein Buch „Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz“ im Südwest Verlag.

Hier kommen Sie zu seiner aktuellen Studie (2021): Achtsamkeit in der Schule (AISCHU) – Evaluation der Weiterbildung für Lehrkräfte zur Stressreduktion

Fazit der Studie: „In dieser explorativen Pilotstudiezu AISCHU (Achtsamkeit in derSchule) für Lehrkräfte konnten erstmals vielversprechende Hinweise auf die Wirksamkeit im Sinne von Stressreduzierung, Burn-out-Risikominimierung sowie Verbesserung der Lebensqualität bei relativ hochbelasteten Lehrkräften beobachtet werden. Obwohl noch weiterer Forschungsbedarf besteht, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein unmittelbarer Nutzen für die Teilnehmenden abgeleitet werden. Daher sollten achtsamkeitsbasierte Interventionen wiedas AISCHU-Programm speziell für Lehrkräfte zukünftig vermehrt in derPraxis eingesetzt werden und Aus-,Fort- und Weiterbildungsprogramme dementsprechend angepasst werden.“

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