Wenn in der Schule Prüfungen anstehen, haben Lehrer:innen Folgendes im Blick: Sind die Kinder fachlich vorbereitet? Sind alle Materialien da? Ist die Sitzordnung richtig? Damit sind scheinbar die Voraussetzungen für erfolgreiche Prüfungen geschaffen.
Nach Lockdown und Distanzlernen ist zudem eine andere Ebene deutlich geworden, die immer schon wichtig war: Wie geht es den Schüler:innen? Was brauchen sie, damit sie sich in der Schule, auch in Prüfungssituationen, sicher fühlen?
Ein ganzheitlicher Blick auf die Schüler:innen ist wichtig, um sie in ihrer Persönlichkeit stärken zu können.
Bereits vor ein paar Jahren habe ich als Klassenlehrerin eine Situation erlebt, die mich in meinem beziehungsorientierten Umgang mit meinen Schüler:innen bestätigt hat.
Im Stress blockiert das Denken
Meine neue fünfte Klasse kam zum Kennenlern-Nachmittag. Wir saßen im Stuhlkreis. Jedes Kind nannte einen persönlichen Gegenstand, den es in den Koffer für eine schöne Zeit an der weiterführenden Schule mitnehmen wollte.
Die 10-jährige Samira machte den Abschluss. „Darf ich nochmal alle wiederholen und dann meinen Gegenstand einpacken?“, fragte sie. „Na klar“, antwortete ich. Samira erinnerte sich an alle 27 Gegenstände ihrer Klasse und zählte sie der Reihe nach auf. Da war ich baff!
Ein paar Wochen später schrieben wir die erste Mathearbeit. Samira hatte eine Fünf. Bei der Besprechung saß sie wie ausgewechselt vor mir. „Ich vergesse in der Arbeit immer alles. Ich habe Angst, weil ich Mathe nicht kann!“
Da wurde ich hellhörig. Erstmal bestärkte ich sie: “Ich bin ganz sicher, dass du Mathe kannst und wir werden das gemeinsam schaffen, ok?”
„Ich bin zu dumm für Mathe“ – stimmt das?
Ich kam mit meiner Klasse ins Gespräch. Vielen Kindern ging es in der Arbeit ähnlich wie Samira. Also reflektierte ich in den folgenden Stunden mit der gesamten Klasse Glaubenssätze wie „Mathe ist schwer“, „Ich kann kein Mathe“ oder „Ich bin zu dumm für Mathe“.
Die Kinder hatten aus der Grundschule bereits solche Schlussfolgerungen über sich selbst oder das Fach mitgebracht. Ich wollte ihnen zeigen, dass sie Einfluss darauf haben, wie sie den Matheunterricht und ihre Fähigkeiten erleben. Schließlich wirken negative Glaubenssätze aus der Schulzeit oft ein Leben lang.
Ich erklärte ihnen: „Ich bin sicher, dass ihr das zu Schulbeginn nicht geglaubt habt, oder? Aber irgendwann habt ihr im Matheunterricht etwas erlebt und das hat alles verändert. Vielleicht wurdet ihr für eure Lösungsideen kritisiert, vielleicht war eure Lehrerin oder euer Lehrer ungeduldig, weil ihr etwas nach mehrmaligem Erklären noch nicht verstanden hattet.
Jedenfalls habt ihr eure persönliche negative Mathebrille aufgesetzt. Durch diese Brille sah Mathe oft schwierig aus. Ihr habt immer mehr Situationen erlebt, bei denen ihr sagen konntet: „Siehste! Ich kann eben kein Mathe!“.
Da ging Einigen ein Licht auf. Auch Samira fiel wieder ein, dass sie Mathe in den ersten beiden Schuljahren gerne gelernt hat und wann das aufgehörte. “Das heißt, ich kann mir jederzeit eine neue Brille aufsetzen, richtig?”, fragte sie hoffnungsvoll. “Ganz genau! Und ihr könnt jederzeit Beweise dafür finden, dass ihr Mathe doch könnt. Jedes Erfolgserlebnis zählt.”
Wie gehen wir mit Angst um?
„Eins ist noch wichtig! Das Gemeine an negativen Gedanken ist, dass sie auch mit schlechten Gefühlen verbunden sind. Das merkt ihr dann, wenn ihr z.B. Angst vor einer Arbeit habt. Diese Angst entsteht, weil ihr schlechte Erfahrungen in Mathe gemacht habt – und die wollt ihr schließlich nicht wiederholen!“ Einige nickten.
„Die gute Nachricht ist: Eigentlich ist Angst gar nichts Schlechtes. Sie zeigt uns, dass wir vorsichtig sein sollen. Das ist in einigen Situationen auch gut so.
Manchmal haben wir Angst und kommen dann nicht weiter. Mir hilft es, mit jemandem darüber zu sprechen, wenn ich Angst habe. So wie wir das gerade machen. Dann können wir herausfinden, woher die Angst kommt und gemeinsam nach einer Lösung suchen.“
Samira hakte nach: „Aber ich vergesse in der Arbeit alles und kann nichts mehr aufschreiben. Das ist richtig blöd!“
„Ja, das ist blöd! Das liegt auch an der Angst. Wir können uns nicht gleichzeitig konzentrieren und Angst haben. Deshalb üben wir ab jetzt gemeinsam, was ihr dagegen tun könnt. Das hilft euch dabei, eure neue positive Mathebrille aufzusetzen.“
Achtsamkeitsübungen gegen das Blackout
So baute ich in den Unterricht immer wieder Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen ein. Ich wollte ihnen Strategien an die Hand zu geben, die sie selbst in herausfordernden Situationen anwenden können, unabhängig von einer Klassenarbeit. Mir ging es also keinesfalls um Leistungsoptimierung.
Wir hielten z.B. alle einen Stift hoch und zählten still und mit geschlossenen Augen bis 60. Nacheinander fielen Stifte auf Schülertische und es war spannend, darüber ins Gespräch zu kommen:
Wie fühlten sie sich nach der Übung? Machte es einen Unterschied, ob sie schnell oder langsam gezählt hatten? Konnten sie eine Veränderung feststellen, nachdem sie die Übung einige Male wiederholt hatten?
Wir bildeten außerdem Assoziationsketten, bei denen der Endbuchstabe des ersten Wortes der Anfangsbuchstabe des zweiten ist: z.B. Tür – riesig – gelb – Blume – einfach… Ein Kind startete die Kette, der Sitznachbar fuhr fort. Als der Ablauf klar war, erweiterten wir die Übung.
Alle bildeten still für sich im Kopf oder auf dem Schmierblatt eine eigene Wortkette. Die Übung diente dazu, bei aufkommender Angst dem Gehirn eine kleine Pause zu verschaffen und damit auch einem Blackout entgegen zu wirken.
Die Kinder wendeten wirklich die Übungen an!
Wir schrieben die zweite Arbeit und starteten gemeinsam mit der geschätzten Minute. Während der Arbeit sah ich immer wieder einzelne Kinder innehalten: Sie wendeten wirklich die Übungen an!
Ein paar Tage später gab ich die Arbeit zurück. Samira hatte eine Vier – und war fröhlich: „Mir ging es viel besser bei der Arbeit. Zwischendurch war ich aufgeregt, da habe ich meine Lieblingsübung gemacht und es klappte wieder besser.“
„Super, darum geht’s. Die Note ist zweitrangig, mir ist wichtig, dass du ohne Angst schreiben kannst.“
Lehrplan und Kompetenzen bilden einen Teil unserer Arbeit. Im Zentrum stehen für mich die Kinder und Jugendlichen. Um mich auszurichten, stelle ich mir immer wieder die Frage: Wofür bin ich Lehrerin? Mein Ziel ist, meine Schüler:innen in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Dann gehören Empathie und ein ganzheitlicher Blick auf das Kind für mich selbstverständlich dazu.
Ann-Marie Backmann ist Lehrerin, Referentin, Bloggerin, Schulcoach – und Mutter von drei Kindern. Sie unterstützt Lehrer*innen und Eltern dabei, mehr Wertschätzung und Vertrauen in ihre Beziehungen zu bringen. Weitere Artikel und Angebote für Lehrercoaching finden Sie auf ihrer Seite Beziehungsweise Schule.