Mann mit Kopfhörer

Klangkunst und Achtsamkeit

Ihr Fachgebiet ist der Klang: Als Professorin für Experimentelles Radio beschäftigt sich Nathalie Singer an der Bauhaus-Universität Weimar mit dem Hören als Kulturtechnik und kann Brücken zur Achtsamkeit bauen.

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Das Gespräch führte Christina Raftery

Frage: Frau Prof. Singer, der Begriff „Bauhaus“ steht seit über einem Jahrhundert für die kreative Beziehung zwischen Innen und Außen, auch für die Frage „Wie wollen wir als Gesellschaft leben?“. Wie tragen Sie persönlich an dieser Hochschule mit Ihrer Professur „Experimentelles Radio“ dazu bei?

Singer: Die Bauhaus-Universität ist ein einzigartiger Ort für ungewöhnliche Professuren; das Experimentelle Radio befasst sich beispielsweise mit den Veränderungen des Mediums im digitalen Zeitalter und versucht neue kreative Formate an der Schnittstelle von Kunst, Technik und Gesellschaft zu entwickeln.

Als Musikwissenschaftlerin und Klangkünstlerin habe ich mich viel mit „konkreter Musik“ beschäftigt, einer Schule, die die Hörwahrnehmung als Ausgangspunkt der Komposition versteht: also „gefundene“, nicht bewusst produzierte Klänge heranzieht, sie als Formen beschreibt und gestaltet, ähnlich wie in der Bildhauerei, aber mit Klängen als Material. Das Hinhören ist dabei zentral. Und vielleicht kann genau dieses (Zu)hören als Kulturtechnik auf die Frage, wie wir in Zukunft als Gesellschaft leben wollen, einen wichtigen Beitrag leisten.

Wie verbinden Sie Ihre Arbeit mit Ihrer Achtsamkeitspraxis?

Singer: Zunächst war sie für mich etwas sehr Privates, und ich musste einen gewissen Prozess durchlaufen, bevor ich sie in Kursform an die Institution bringen konnte. Ich habe mich immer dafür interessiert, Brücken zwischen Disziplinen zu schlagen.

So bin ich beispielsweise, bevor ich Professorin war, mit meiner Zwillingsschwester, die Neurowissenschaftlerin und Psychologin ist, für einen Film über Frequenzen und Schwingungen durch den Himalaya gereist. Die Praxis der Achtsamkeit nach Jon Kabat-Zinn habe ich dann über einen Freund erst später kennen gelernt.

Auch darin geht es auch ganz wesentlich um Zuhören.

Singer: Als mir diese Praxis begegnete, dachte ich in der Tat: „Das mache ich in der Klangkunst doch schon immer!“ Achtsames (Zu)hören bildet die Basis des Komponierens; da schärfen wir unsere Ohren und gehen zur intensiveren Sinnesempfindung in die innere Stille.

Wir praktizieren „blind walks“, um mit geschlossenen Augen Klänge in ihrer räumlichen Orientierung wahrzunehmen, als Formen, Farben, Nuancen. Für die Selbstfindung wie auch die Kreativitätsbildung ist es hilfreich, in sich hinein zu horchen und heraus zu finden: Was möchte ich überhaupt sagen? Was möchte ich mit meiner Kunst oder meinem Beitrag ausdrücken? Was ist authentisch und ehrlich? Dafür sind auch Dyaden, also ein achtsamer Dialog, mit seinem Sprechen ohne Unterbrechung und stillem Zuhören eine wunderbare Übung.

Über Kunst, Konzentration und die Hörbildung kann man einfach einen Zugang zur Achtsamkeit bekommen.

Wie vermitteln Sie solche Erfahrungen an die Studierenden?

Singer: Seit 2011 unterrichte ich im Rahmen von künstlerischen Projektmodulen immer wieder Kurse zum Thema der Entschleunigung. Vor zehn Jahren galt die Achtsamkeit zwar im Hochschulkontext noch als exotisch, von den Studierenden wurde sie jedoch schon damals mit großem Interesse aufgenommen.

Foto Natalie Singer
Prof. Nathalie Singer arbeitet an einer Schule des Hörens

Für die meisten waren das wertvolle (Selbst)Erfahrungen, und es kamen auch schöne künstlerische Arbeiten dabei heraus. Dennoch blieb es bei punktuellen Angeboten, die von Geldern für externe Lehraufträge oder Drittmittelprojekten abhängig waren.

Auch die Einheiten von MBSR (Stressbewältigung durch Achtsamkeit) wurden von den Studierenden immer wieder kritisch aufgenommen und als Fremdkörper im Kursverlauf wahrgenommen. Mich beschäftigte daher immer mehr die Frage, wie die Achtsamkeit auch Teil unseres universitären Alltags und unserer normalen Lehre werden könnte.

Mittlerweile sind Sie Absolventin der MBLT („Mindfulness Based Leadership“) und MBTT („Mindfulness Based Teacher“)-Trainings für Führungskräfte und Lehrende an Hochschulen. Was ist Ihr diesbezügliches Fazit?

Singer: Vor allem der Zertifizierungskurs für Lehrende und der damit verbundene Austausch mit Dozent:innen und anderen Kursteilnehmer:innen hat mir mehr Selbstbewusstsein gegeben, Übungen und Meditationen selbst anzuleiten und vermehrt in die Projekte zu integrieren.

Es war auch schön zu erleben, dass viele Kolleg:innen ähnliche Ziele verfolgen. Ich finde den Weg, Lehrende darin zu verstärken ihre ganz individuelle Form der Praxis zu entwickeln und auf ihre eigene Disziplin anzupassen, sehr sinnvoll.

Verändert ein solches Training auch die Ansprache der Studierenden?

Singer: Als Vizepräsidentin konnte ich erleben, dass viele Führungskräfte die Achtsamkeitsbewegung oft als eine Art „Religion ohne Gott“ skeptisch betrachten. Bei unseren Studierenden ist es ähnlich: Sie sind durchwegs kritische Freigeister. Wenn es zu „esoterisch“ wird, machen sie zu.

Wenn ich stattdessen über Kunst, Konzentration und die Hörbildung gehe, wird der Zugang einfacher. Die Achtsamkeitspraxis im Sinne eines Gewahrseins, eines „sich bewusst werdens“, lässt sich ja auf viele Methoden ausweiten und gut mit künstlerischen Wahrnehmungs- und Kommunikationsübungen kombinieren.

Durch die Pandemie ist auch an den Universitäten eine Offenheit für Neues entstanden.

Derzeit muss die Lehre vorwiegend über digitale Kanäle stattfinden. Beeinträchtigt dies Ihrer Erfahrung nach die Qualität?

Singer: Nicht unbedingt, manches verläuft sogar konzentrierter als ich dachte. Theorie und Praxis der „listening cultures“ werden womöglich sogar noch deutlicher. Für mich ist beachtlich, wie viel Schwingung sich online übertragen lässt. Auch für die Dyaden funktionieren Breakout Rooms ganz gut, dennoch fehlt natürlich die Resonanz einer unmittelbaren Gruppe.

Die Studierenden, die sich in den Online-Semestern oft zu Hause isoliert fühlen, benötigten viel persönliche Ansprache und Fürsorge. Die praktischen Angebote taten ihnen gut. Fast ausnahmslos haben alle festgestellt, dass sich ihr (Zu)Hören verändert hat und sie aufmerksamer für ihre Außenwelt und sich selbst geworden sind.

Ist auch hier Ihre fachliche Spezialisierung auf das „Experimentelle“ hilfreich?

Singer: Durch die Pandemie ist meinem Empfinden nach auch an den Universitäten eine Offenheit für Neues und eine Bewusstwerdung für das Zwischenmenschliche entstanden. In welcher Form sie ihren Platz findet, müssen wir noch sehen, und ob sie sich nicht verbraucht, wenn sie nicht konkret in die jeweiligen Kontexte übertragen wird. Manchmal erklären Menschen Dinge zu schnell zu Modellen. Ich würde sie eher „Erfahrungen“ oder „Experimente“ nennen.

Vielleicht auch „Beschleuniger“ eines Bewusstseinswandels, wie es auch schon vor hundert Jahren der Bauhaus-Idee entsprach?

Singer: Aktuell habe ich im Rahmen der EU-Initiative „Neues Europäisches Bauhaus“ in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen der Bauhaus-Universität ein erstes Konzept zu einem Sense Lab, einem Labor für Wahrnehmungs- und Bewußtseinsbildung, innerhalb der Universität eingereicht.

Für das Wintersemester 2021/22 habe ich ein Forschungsfreisemester beantragt, mit dem Ziel, weiter an einer neuen Schule des Hörens zu arbeiten. Eine solche Schule des Hörens, als sinnliche wie sinnhafte Praxis, könnte einen Beitrag dazu leisten, zukünftige Gesellschaftsgestalter:innen zu einem kreativen In-der-Welt-Sein auszubilden, das zur Verantwortung, Kooperation, sowie zur Selbstfindung und Selbstkritik befähigt.

Inwieweit sich all diese größeren Ideen verwirklichen lassen, bleibt abzuwarten. In der Zwischenzeit werde ich weiter in meinen Kursen mit kleinen Übungseinheiten der Achtsamkeit und des (Zu)Hörens experimentieren.

Prof. Nathalie Singer ist Ansprechpartnerin der überregionalen Kooperationsplattform „Achtsame Hochschulen“ an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie ist dort als Professorin für Experimentelles Radio tätig und war von 2017-2020 Vizepräsidentin für Studium und Lehre. Sie arbeitete als Radiokünstlerin und Dramaturgin für den Rundfunk und widmet sich seit 2008 mit der Wanderausstellung „Radiophonic Spaces“ der künstlerischen Erforschung von Audio-Archiven.

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  • Hören, Klang: rupam-dutta/ Unsplash
  • Nathalie Singer: privat