Bälle

Lehrkräftegesundheit – Warum wir Veränderungen im System brauchen

Lehrer*in zu sein – das ist manchmal so, als ob dir jemand 100 Bälle zuwirft und sagt: Fang sie alle! Viele kommen im Schulalltag an ihre Grenzen. Martina Schmidt über Belastungsfaktoren und Lösungsansätze.

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Wer guten Unterricht machen und Schülerinnen und Schüler bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleiten möchte, der muss selbst gesund sein, physisch und psychisch. Doch wie gesund sind die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land?

  • Ein guter Indikator dafür ist die Zahl der vorzeitigen Pensionierungen: Drei von vier Lehrkräften wurden 2017 vor der gesetzlichen Altersgrenze in den Ruhestand versetzt (1).
  • Die Ursachen für dieses vorzeitige Ausscheiden aus dem Schuldienst sind vor allem psychische Erkrankungen.(2) Dazu passt, dass in einer aktuellen Studie knapp 70 Prozent der Lehrkräfte angeben, durch ihren Beruf hoch bzw. sehr hoch belastet zu sein.(3)
  • Belegt ist auch, dass Lehrerinnen und Lehrer häufiger als andere Berufsgruppen unter Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfung bis hin zum Burnout leiden. (4)

Was ist so anstrengend am Schulalltag? Welche Aspekte gefährden die psychische und physische Gesundheit von Lehrkräften? Und was muss sich ändern, damit Lehrerinnen und Lehrer ihren wichtigen Job voller Elan und Energie ausüben können?

Belastungsfaktoren im Schulalltag

„Lehrer*in zu sein – das ist manchmal so, als ob dir jemand 100 Bälle zuwirft und sagt: Fang sie alle!“ Ein solches Anforderungsprofil heißt in der Fachsprache „high demand – low resource“. Und es lohnt sich, genauer hinzuschauen, welche hohen Ansprüche da im Widerspruch zu geringen Ressourcen stehen.

Große Klassen, viele Herausforderungen

Lehrer*innen haben es oft mit sehr großen Lerngruppen zu tun. Blitzschnelles Reagieren auf Fragen, Störungen und spontane Änderungen ist gefragt. Eine Studie hat gezeigt, dass Lehrkräfte in einer Unterrichtsstunde bis zu 200 Entscheidungen treffen müssen. Was diese Entscheidungsdichte angeht, ist unser Job vergleichbar mit dem eines Fluglotsen oder einer Herzchirurgin. Nicht zu unterschätzen ist auch die Lärmbelastung während des Unterrichts.

Die Aufgaben, die Lehrer*innen erfüllen sollen, nehmen stetig zu. Sei es die Umsetzung der Inklusion, die Implementierung neuer Lehrpläne oder die Entwicklung von Hygienekonzepten. Der Lehrkräftemangel führt zu Unterrichtsausfall und dazu, dass viele Aufgaben auf wenige Schultern verteilt werden müssen.

Stress auch in der Pause

Nach der Anspannung des hochkonzentrierten Unterrichtens bräuchte das Nervensystem eine Möglichkeit zur Entspannung und Regeneration. Bei Lehrkräften steigt in der „Pausenzeit“ der Stresspegel hingegen aber noch messbar an.

Denn jetzt werden Gespräche geführt, der Vertretungsplan organisiert, kopiert, Pausenaufsicht geführt, der Unterrichtsraum vorbereitet und vieles mehr. Fehlende Pausen und fehlende Rückzugsräume sind einer der größten Belastungsfaktoren im Schulalltag. (5)

Die Bälle in der Luft halten – dazu gehört auch eine gelungene Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Genau das fällt vielen Lehrkräften schwer: Denn auch zu Hause ist die Schule überall präsent. Die pausenlose Ansprechbarkeit, die „entgrenzte Arbeitszeit“, erzeugt bei vielen das Gefühl, niemals Feierabend zu haben.

Crowding – zu viele Sinneseindrücke

Noch viel zu wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang das Phänomen des sogenannten „Crowding“: Gemeint ist damit die permanente Flut von Sinneseindrücken aller Art und die intensive Interaktion mit anderen Menschen. Ständig werde ich etwas gefragt, muss reagieren, etwas regeln, organisieren. Diese Überstimulation des Nervensystems führt zu Dauerstress und verbraucht jede Menge Energie. (6)

Paradoxerweise ist vielen Lehrkräften genau dieser Belastungsfaktor gar nicht bewusst. Denn um in diesem herausfordernden Umfeld zu überleben, nutzen viele eine Überlebensstrategie: Die Selbstwahrnehmung abschalten, um all die Sinnesreize nicht mehr fühlen zu müssen, um trotz und mit allem noch funktionieren zu können.

Und genau diese Überlebensstrategie führt kurzfristig dazu, dass wir im Schulalltag unsere eigenen Bedürfnisse nicht spüren, seien es Hunger und Durst, das Bedürfnis nach Ruhe oder dem Toilettengang. Langfristig führt diese Strategie zu chronischen Stresserkrankungen.

Den Lebensraum Schule gesund gestalten

Lehrer:innen dürfen sich klar machen: Es ist unmöglich, die 100 Bälle zu fangen und mit ihnen zu jonglieren. Ich kann gar nicht alles schaffen. Und das liegt nicht an der eigenen Unfähigkeit, an der zu geringen Belastbarkeit oder dem schlechten Selbstmanagement.

Wenn mir das klar ist, kann ich gezielter auswählen, für welche Aufgaben ich meine Energie einsetze und kann bewusster Grenzen ziehen. Als erstes wirksam werden können wir also bei uns selbst. Und für viele ist es erst einmal wichtig anzuerkennen, dass nicht sie allein verantwortlich sind für ihre Erschöpfung.

Wenn ich Kolleg*innen auf dem Weg zur „pausenfreundlichen Schule“ begleite, dann geht es nicht nur um Stundenplan- und Raumgestaltung und Teamstrukturen. Vor allem geht es um die Entwicklung einer neuen, persönlichen Haltung:

  • Pausen sind kein unnötiger Luxus, sie sind grundlegend und wichtig.
  • Eine gesunde Selbstfürsorge ist essentiell und kein Egozentrismus.
  • Achtsamkeit ist eine gute Basis, um überhaupt wahrnehmen zu können, wie es einem selbst gerade geht und was für einen hilfreich sein könnte, um im Schulalltag gelassen, gesund und gut gelaunt zu bleiben.

„Lehrer*innen benötigen einen modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz, weil sie hohe Anforderungen zu bewältigen haben und einen erheblichen Beitrag zum gesellschaftlichen Gemeinwohl leisten.“ Das fordert Dr. Reingard Seibt, die Projektleiterin der ersten bundesweiten Studie zur Lehrer:innenarbeit. (3)

Wir brauchen Unterstützung durch Fachkräfte, Entlastung von Verwaltungs- und Organisationsaufgaben, kleinere Klassen und nicht zuletzt: erholsame Pausen.

Bis hier spürbare Veränderungen einsetzen, wird es wohl noch dauern. Dennoch ist es ein erster und wichtiger Schritt, die fehlenden Ressourcen klar zu benennen, ohne ins Jammern oder in eine Opferhaltung zu verfallen.

Den Lebensraum Schule so zu gestalten, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen und gesund bleiben – das ist auch eine Aufgabe von Schulleitungen. Unsere Schulen brauchen Gesundheitskonzepte, die alle am Schulleben Beteiligten mit einbeziehen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist das Willy-Brandt-Berufskolleg, das sogar einen Gesundheitsbeauftragten hat. (7)

 

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Martina Schmidt war 25 Jahre lang Grundschullehrerin und ist schon viele Jahre tätig in der Lehrkräfteausbildung und -fortbildung. Ihr Ziel: Lehrer*innen dabei zu unterstützen, im Schulalltag gelassen, gesund und gut gelaunt zu bleiben. Das tut sie mit ihrem Podcast, den Workshops für Schulteams und individuellem Coaching. Hier kommen Sie zu ihrem Angebot und auf ihre Website.

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  • Bälle: Greyson Joralemon / unsplash
  • Martina Schmidt: privat