Lernen, die Welt zu verändern

Kinder wollen sich engagieren und Verantwortung übernehmen, weiß die Bildungsinnovatorin Magret Rasfeld. Michaela Doepke sprach mit ihr über die Initiative „Schule im Aufbruch“ und das neue Lernformat FREI DAY.

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Das Interview führte Michaela Doepke

Was ist in Zeiten des Wandels die Aufgabe von Schule heute? Wie können wir Kinder auf die gewaltigen Zukunftsaufgaben besser vorbereiten?

Magret Rasfeld: Die Aufgabe von Schule war schon immer, Kinder auf die Zukunft vorzubereiten und auf die Fähigkeit, ein gutes, sinnerfülltes Leben zu führen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Krisen sind groß, Kinder haben berechtigte Zukunftsängste, die Globalisierung und die Unvorhersehbarkeit sowie die Komplexität hat zugenommen.

Wir müssen sie jetzt auf den Umgang mit Unsicherheiten und disruptiven Veränderungen vorbereiten und noch stärker als bisher die Erfahrung vermitteln, dass sie resilient sind, dass sie mit Krisen umgehen können, dass sie an sich glauben. Alle diese Dinge sind viel bedeutsamer geworden als sie noch vor zehn Jahren waren.

Sie haben im Rahmen Ihrer Initiative „Schule im Aufbruch“ das Konzept des FREI DAY entwickelt, das die globalen Ziele der UN für Nachhaltigkeit im Bildungssystem umsetzt. Wie kam es dazu?

Rasfeld: Dieses Konzept ist eigentlich eine Weiterentwicklung von Konzepten, die es schon sehr lange bei Schule im Aufbruch gibt. Zum Beispiel gibt es schon seit über 20 Jahren ein Lernformat, das „Verantwortung“ heißt. Alle Schülerinnen und Schüler suchen sich eine verantwortliche Aufgabe im Gemeinwesen, im sozial-ökologischen Bereich. Das wurde 1999 an der Schule, die ich damals in Essen geleitet habe, entwickelt, und wurde inzwischen mit sehr guten Erfahrungen an 500 Schulen verwirklicht.

Kinder sollen erfahren, wie wertvoll es ist, sich mit anderen zu verbinden und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Kinder wollen sich engagieren. Sie haben auch eine sehr hohe Sensibilität für Gerechtigkeit. Und wir müssen ihnen einfach die Räume eröffnen, dass sie erfahren können, wie wertvoll es ist, Verantwortung zu übernehmen, sich mit anderen zu verbinden und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Also das ist die eine Grunderfahrung.

Ein weiteres Lernformat von Schule im Aufbruch ist das Projektlernen. Einen Tag in der Woche arbeiten Schüler*innen mit eigenen Forscherfragen zu einem übergreifenden, selbstbestimmten Thema. Die Projekte sind in der Regel auf sechs Wochen begrenzt. Der FREI DAY erweitert das Projektlernen auf die Zeit, die Kinder und Jugendliche brauchen, um Lösungen für Herausforderungen zu entwickeln und auch umzusetzen. Denn die neue Aufgabe von Schule heißt „Lernen, die Welt zu verändern“.

Die Transformation der Gesellschaft erfordert einen Paradigmenwechsel im Bildungssystem. Das hat die Bildungspolitik erkannt und im Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), der im Juni 2017 verabschiedet wurde, formuliert. Ebenso von der UNESCO BNE 2030 werden Aktions- und Freiräume für das Handeln der Jugendlichen gefördert.

Aus diesen allgemeinen Forderungen habe ich ein konkretes Format entwickelt, das jeder verstehen kann. Das ist der FREI DAY, der an jeder Schule umgesetzt werden kann. Er ist nicht zu kompliziert und kann die Brücke von der alten Schule in die neue bilden.

Was war Ihre persönliche Motivation, die Bildungslandschaft zu reformieren und einen FREI DAY ins Leben zu rufen?

Rasfeld: Ich bin seit 39 Jahren Lehrerin und habe gesehen, welches Potenzial Kinder haben und was sie brauchen. Ich habe erlebt, wie sie mit Freude in die Schule kommen und wie Schule systematisch ihre Begeisterung abbaut und sie in den Erfüller-Modus bringt, dass Lernen nicht Freude macht, sondern oft angstbesetzt ist. Auch bei der gängigen Reduzierung auf die Noten habe ich von Anfang an anders gearbeitet. Ich habe erlebt, was Kinder alles können und beschlossen, Schulleiterin zu werden, um das systematischer ins System zu bringen, 1996 in Essen und 2007 in Berlin.

Ich habe bei den Lehrkräften gemerkt, wie groß die Sehnsucht nach Veränderung ist und gesagt, wir brauchen jetzt eine Initiative von unten.

2012 habe ich als Schulleiterin der Evangelische Schule Berlin Zentrum den Schritt gemacht, bei der monatlichen Lehrer*innenfortbildung die neue Lernkultur weiterzugeben und zu verbreiten. Und da sind so viele Menschen gekommen. Ich habe gemerkt, wie groß die Sehnsucht nach Veränderung ist und gesagt, wir brauchen jetzt eine Initiative von unten.

Wir warten nicht auf oben. Wir unterstützen Schulen, die jetzt in den Aufbruch gehen wollen. Daraus ist 2012 die Initiative Schule im Aufbruch entstanden. Also vom einzelnen Unterricht zur Schule, zur Verbreitung in die Öffentlichkeit in Deutschland und darüber hinaus.

Ich würde sagen, der FREI DAY ist ein Format, das sich skalieren lässt und wirklich sehr stark in die Breite gehen kann angesichts der Herausforderungen und der Bedürfnisse, die Kinder und Jugendliche haben. Der FREI DAY kommt auch sehr gut an, weil er die Nachhaltigkeitsziele (SDG`s) aufgreift, die Interessen der Kinder und Jugendlichen und das Element „Handeln“ enthält.

Beim FREI DAY eignen sich die Schülerinnen und Schüler zu einem Thema im Rahmen der SDG`s, das sie selbst interessiert, selbständig Wissen an und überlegen dann: wo gibt es eine Herausforderung, ein Problem in meiner Schule, in meiner Kommune. In Teams überlegen sie sich dann: Was können wir tatsächlich tun, wie können wir wirksam werden? Wie können wir etwas verändern? Und haben dann die Zeit, Ideen umzusetzen.

Dazu nutzen sie natürlich alles, was an Unterstützungsmöglichkeiten rund um die Schule vorhanden ist. Also der FREI DAY ist sehr handhabbar und bedient gerade ein großes Bedürfnis. Es ist ein Modul, das die großen bildungspolitischen Beschlüsse, die noch nicht umgesetzt werden, tatsächlich in die Umsetzung bringt.

Das alte Schulsystem ist nicht zu retten. Es unterläuft die gesundheitsfördernden Faktoren massiv.

Immer mehr Lehrkräfte und Schüler*innen leiden – verschärft durch Corona, Klimawandel und Ukraine-Krieg – zunehmend unter psychosozialem Stress. Zudem gibt es zu wenig Pädagog*innen. Ist das aktuelle Schulsystem überhaupt noch zu retten?

Rasfeld: Also, das alte Schulsystem ist nicht zu retten. Aber wir können es umbauen. Wenn wir es nicht verändern, werden immer weniger Menschen den Lehrerberuf wählen, immer mehr Kinder sich abmelden, nicht mehr zu erreichen sein.

Das alte System ist so angelegt, dass es gerade die gesundheitsfördernden Faktoren massiv unterläuft. Die Zeitungen waren letztes Jahr voll mit Studien zu der katastrophalen psychosozialen Lage der Kinder und Jugendlichen. Hoffnungslosigkeit ist ein großes Defizit bei vielen Menschen, auch bei Jugendlichen.

Die Bundesjugendministerin Lisa Paus hat gerade zehn Millionen für Mental-Health-Coaches an Schulen bereitgestellt – wo die Mental Health Coaches herkommen sollen, ist mir ein Rätsel. Ich befürchte, dass das Thema damit schon wieder beendet ist, zumal Kinder und Jugendliche keine Lobby haben, nicht wirklich von Interesse sind. Aber es ist zumindest ein Anfang gemacht.

Die Themen Gesundheit und Resilienz sind Schlüssel, um etwas zu verändern.

Das Thema Resilienz hat gerade eine sehr hohe Konjunktur. Wie können wir Kinder resilient machen? Insofern versuche ich tatsächlich, darauf aufmerksam zu machen, dass die Schule krank statt resilient macht und setze mich dafür ein, hier die Brücken zu bauen, das Ganze zu verstehen.

Es könnte sein, dass die Themen Gesundheit, Resilienz und Hoffnungslosigkeit ein Schlüssel sind, um etwas zu verändern. Das würden wahrscheinlich viele Menschen eher annehmen können als ein Versagen des alten Systems. Wir müssen das Alte schätzen, Schule hat auch viel erreicht in Deutschland, − aber jetzt eben einsehen, dass der nächste Schritt getan werden muss.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Margret Rasfeld setzt sich als engagierte Bildungsinnovatorin für eine radikale Transformation der Bildungskultur ein. 2007 leitete sie auf Anfrage von Eltern die Evangelische Schule Berlin Zentrum. 2012 gründete sie mit Gerald Hüther und Stefan Breidenbach die Initiative „Schule im Aufbruch“. Sie erhielt viele Preise und entwickelte das Konzept des FREI DAY, ein nachhaltiges Lernkonzept, das eine Brücke vom alten zum neuen Schulsystem bildet.

Margret Rasfeld: FREI DAY. Die Welt verändern lernen! Für eine Schule im Aufbruch, oekom Verlag 2021

 

 

 

 

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Hier kommen Sie zur Seite der Initiative Schule im Aufbruch.

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE): Am 2. Januar 2023 startete die neue Kampagne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und ihre Akteurinnen und Akteure noch sichtbarer machen will: „Lernen. Handeln. Gemeinsam Zukunft gestalten. Bildung für nachhaltige Entwicklung“. BNE ist die Abkürzung von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Gemeint ist eine Bildung, die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt. Sie ermöglicht jedem Einzelnen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen. Hier kommen Sie zur Seite.

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  • Magret Rasfeld: Markus Wächter