Frau nachdenklich

Mehr Unterstützung in einem Job mit hohen Belastungen

Lehrkräfte stehen enorm unter Druck. Wie kann man bei dem Job achtsam und locker bleiben? Über Ursachen, den persönlichen Umgang und notwendige Veränderungen im System spricht Podcasterin und Coach Lydia Clahes im Interview.

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Das Gespräch führte Marika Muster

Liebe Lydia Clahes, welche Lehrer*innen kommen zu Ihnen ins Coaching?

Lydia Clahes: Zu mir kommen Lehrer*innen mit Herz, gutem Willen und Brillanz, denen es aber durch das System oft schwer gemacht wird, all dies auch in die Schule zu tragen. Es kommen die, die merken: Hier stimmt etwas nicht. Die Belastungen nicht mehr alleine wuppen wollen. Das sind Referendar*innen ebenso wie erfahrene Lehrer*innen, Schulleiter*innen und Mütter in Elternzeit. Insgesamt sind es deutlich mehr Frauen als Männer.

Worum geht es in den Coachings am häufigsten?

Clahes: Hauptsächlich geht es um Work-Life-Balance, den Wunsch, wieder etwas vom Leben zu haben, nicht allein Lehrkraft zu sein. Aktuell geht es zudem auch häufig um Unruhe im Unterricht. Der permanente Geräuschpegel belastet Lehrkräfte und kostet sie viel Kraft.

So ist es für Kinder immer schwieriger, ihre persönlichen Bedürfnisse in der Schule zu unterdrücken, z.B. nur dann zu sprechen, wenn sie „drangenommen“ werden. Wir müssen bedenken: Zuhause dürfen sie das – mehr noch als früher. Ihre Eltern wollen – zum Glück! – , dass ihre Kinder selbst eine Wahl treffen, eine Meinung haben. In der Schule ist oft noch wenig Raum dafür. Das frustet und führt zu ganz natürlichen „Unterrichtsstörungen“. Die dadurch immer wieder unterbrochene Unterrichtsplanung wiederum setzt Lehrer*innen unter Druck, weil sie den ihnen vorgegebenen Stoff so nicht mehr schaffen können.

Es hat sie auch selten jemand darauf vorbereitet, sich aggressivem Verhalten von Schüler*innen zu stellen. Zu diesem gibt es jedoch immer eine längere Vorgeschichte, in der sich nicht selten Frust aufgestaut hat, zum Beispiel, weil Schüler*innen sich über viele Jahre in der Schule fast nur noch mit ihren Schwächen und Fehlern konfrontiert sehen. Die Kinder haben dann keine andere Strategie, um damit umzugehen, als sich gegen die Lehrkraft zu richten.

Spagat zwischen dem, was Kinder bräuchten und dem Gefühl, dass einem die Hände gebunden sind.

Sind Unterbrechungen des Unterrichts denn mehr geworden?

Clahes: Ich denke ja. Die Schule ist ein Ort, an dem viele Menschen mit ganz verschiedenen Bedürfnissen aufeinandertreffen, die in dem System, wie wir es kennen, nicht mehr aufgegriffen werden können. Für meine Klient*innen ist es ein ständiger Spagat zwischen dem, was Kinder bräuchten und dem Gefühl, dass ihnen als Lehrkraft die Hände gebunden sind. Der Lehrplan soll erfüllt werden. Auch Eltern erwarten viel. Als Lehrkraft muss man vielen Menschen Rechenschaft ablegen.

Außerdem ändern sich Generationen und das System Schule passt sich nur sehr langsam an. Viele Schüler*innen beugen sich heute nicht mehr automatisch jeder „Autoritätsperson“ – zum Glück! Den Respekt, den man sich als Lehrperson von seinen Schüler*innen wünscht, muss man sich heute erst verdienen.

Hinzu kommt, dass alle Beteiligten mehr unter Druck stehen, institutionell und familiär. Viele Kinder sollen möglichst Abitur machen, haben nachmittags noch Reiten, Musikunterricht und andere Aktivitäten, die nicht immer der Entspannung dienen. Die Kinder sind den ganzen Tag unter Anleitung. Eine persönliche, intrinsische Motivation kann so kaum entstehen. So wird Lernen laufend anstrengender. Gleichzeitig haben Lehrkräfte immer mehr Administratives zu erledigen und weniger Zeit, sich auf das für sie Wesentliche zu konzentrieren.

Was ist denn das Wesentliche?

Clahes: Viele von uns sind doch sicherlich Lehrer*in geworden, um Schüler*innen positiv zu prägen, sie in etwas zu unterrichten, was man selbst für sinnvoll hält. Dafür braucht es stabile Beziehungen, Vertrauen, Orientierung, wofür ich mir als Lehrkraft Zeit und Energie nehmen muss. Wo die Beziehung instabil ist, gehen Schüler*innen in den Widerstand oder Rückzug (fight or flight). Dann kostet mich das auf eben unangenehme Weise Zeit und Energie.

Ich habe großen Respekt davor, wenn Lehrer*innen an sich arbeiten.

Wie kann man als Lehrer*in gut mit Unterrichtsunterbrechungen umgehen?

Clahes: Es ist gut, flexibel und empathisch darauf reagieren zu können und zu verstehen, dass Schüler*innen oft gar nicht Sie als Lehrkraft meinen, wenn sie stören oder aggressiv sind. Es ist nicht leicht, das nicht persönlich zu nehmen. Aber jeder von uns hat gute Gründe für sein Verhalten, die man erforschen, auf die man eingehen kann. Dafür sollten Kolleg*innen, die in der gleichen Klasse unterrichten, gut miteinander kooperieren. Schüler*innen merken das. Das gibt Sicherheit. Nörgeln verhärtet hingegen die Fronten.

Jungen Lehrkräften wird leider noch viel zu häufig empfohlen, strenger aufzutreten. Dabei ist es oft genau umgekehrt. Durch aufgesetzte Autorität wird keine echte Beziehung aufgebaut. Zunächst einmal muss es darum gehen, die eigenen Grenzen zu kennen und klar zu kommunizieren, nicht den Zufall entscheiden zu lassen, was für eine Beziehung sich zur Klasse entwickelt, sondern immer wieder aktiv daran zu arbeiten – weil ich als Lehrkraft nun einmal der Profi bin.

Das alte Autoritätsgefälle zwischen Lehrkraft und Klasse darf getrost abnehmen. Konflikte kann nur lösen, wer sein Gegenüber ernst nimmt. Und es ist wichtig, bei sich selbst anzufangen. Lehrkräfte, die selbst gestresst sind, können schlecht Sicherheit und Gelassenheit ausstrahlen. Ich habe großen Respekt davor, wenn sie aktiv daran arbeiten wollen.

Was macht gute Lehrkräfte aus?

Clahes: Gute Lehrer*innen sind wohlwollend, menschlich und authentisch, arbeiten an Resilienz und Gelassenheit. Dafür ist es nützlich, sich täglich auch zu fragen: Was ist mir Positives an meinen Schüler*innen aufgefallen? Diese Lehrkräfte bauen eine gute Bindung zu ihnen auf und zeigen ihnen, wo sie Wissenswertes finden, statt alles selbst herunterbeten zu wollen. Sie geben Kindern Orientierung und reagieren nachvollziehbar, nehmen sie ernst, lassen sie partizipieren und verstehen.

Sie stärken die Stärken der Schüler*innen und spiegeln ihnen zugleich authentisch, wie ihr Verhalten ankommt. Eine gute Lehrer*in reflektiert die Demütigungen aus der eigenen Schulzeit, arbeitet an der eigenen Selbstwahrnehmung und achtet darauf, dass es ihr in ihrem Beruf gut geht.

Das ist viel… Welche Rolle spielen denn die Eltern?

Clahes: Manchmal machen Lehrer*innen irgendwann dicht, wenn es um Eltern geht. Daraus kann dann Gegnerschaft entstehen. Dabei ist es in den meisten Fällen nur bereichernd, gut mit Eltern zu kooperieren, die sich einbringen und unterstützen wollen. Eltern sind Expert*innen für das eigene Kind. Elterngespräche dürfen daher niemals Machtinstrument sein. „Wir kommen hier zusammen, weil wir beide nur das Beste für das Kind wollen.“ Das ist eine gute gemeinsame Grundlage, an der man ansetzen sollte. Dabei darf ich es als professionelle Lehrkraft nicht persönlich nehmen, wenn Eltern – durch ihre eigenen negativen Vorerfahrungen mit Schule und den Blick aufs eigene Kind sensibilisiert – auch mal unbequem auftreten.

Wie können Lehrer*innen gut für sich selbst sorgen?

Clahes: Jedem tut etwas anderes gut. Jeder sollte bewusst schauen, was die persönlichen Kraftquellen sind und diese auch kontinuierlich ansteuern. Außerdem ist die innere Einstellung entscheidend. Als Lehrkraft muss ich nicht alles wissen und muss nicht perfekt sein. Wer zu seinen Fehlern und Schwächen steht, sie lockerer nimmt, ist ein gutes Vorbild für Schüler*innen, die schon genug unter Leistungsdruck stehen. Auch wer für seine eigenen Werte aktiv einsteht, sorgt gut für sich.

An entscheidenden Stellen sollte man sich selbst erlauben, Nein zu sagen, sich gut abzugrenzen, die Freiheiten, die man hat, auch zu nutzen. Wer an richtiger Stelle locker lässt, kann an anderer Stelle umso fester zupacken. Eigene Stärken zu kennen und sie mit Freude einzubringen sowie ganz feste, zum Alltag passende Routinen sind ebenfalls wichtige Schritte zur Selbstfürsorge. 

Keine Lehrkraft sollte die wertvolle Pause am kaputten Kopierer verbringen müssen.

Was wünschen Sie sich für die Schulen der Zukunft?

Clahes: Ich finde, wir brauchen mehr Personal. Nicht nur mehr Lehrkräfte, sondern auch andere Mitarbeiter*innen, die nicht pädagogisch arbeiten und Lehrer*innen an anderer Stelle entlasten – zum Beispiel mit der IT oder allem Organisatorischen. Keine Lehrkraft sollte die wertvolle Pause am kaputten Kopierer verbringen müssen. Lehramtsstudent*innen könnten in Schulen aushelfen und dort gleichzeitig so viel lernen. In anderen Ländern wie den USA läuft das teilweise schon so.

Außerdem wünsche ich mir, dass die Lehrer*innenausbildung angepasst wird. Es muss noch viel mehr darum gehen, den Umgang mit Menschen zu erlernen, Lernfreude der Schüler*innen zu unterstützen. Schule braucht Raum für Persönlichkeitsentwicklung. Und die landet über die Lehrer*innen bei den Schüler*innen. Teilweise kommen ehemals hochmotivierte Referendar*innen nach Dreiviertel ihrer Ausbildung zu mir ins Coaching und haben den Glauben an sich schon weitgehend verloren. Sie stehen durch die dauernde Beobachtungs- und Bewertungssituation irgendwann so unter Druck, dass sie das Bewusstsein für die eigenen Stärken verloren haben. Stattdessen bräuchten sie eine Begleitung, die auch ihre Persönlichkeit sieht und kontinuierlich ihre Stärken mit im Blick behält.

Haben Sie noch ein paar ganz persönliche Tipps?

Clahes: Vertretungsstunden sind für viele Lehrkräfte belastend. Ich selbst habe diese irgendwann nur noch für Beziehungsarbeit und Lerncoaching genutzt, wovon wir alle profitierten. Um auch in Krisen den positiven Blick auf sich selbst und die Ressourcen des eigenen Umfelds nicht zu verlieren, empfehle ich, ein „Jolly Journal“ zu führen. Das ist eine Art Dankbarkeitstagebuch, das mein Mann und ich extra für Lehrkräfte herausgebracht haben. Hierin hält man täglich fest, was einem gelungen ist, was man gelernt hat, was einem Positives an Schüler*innen aufgefallen ist.

Der wichtigste Tipp ist sicherlich: Bei aller Liebe zum Beruf nicht ausschließlich Lehrkraft sein, sondern auch das Privatleben gut im Blick behalten. All dies ist wertvolle Lebenszeit!

 

Lydia ClahesLydia Clahes war im Schuljahr 2016/17 aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, dem Schuldienst den Rücken zu kehren. Das fiel ihr nicht leicht und hat sie dazu veranlasst, in einem Podcast „Locker Lehrer – der positive Lehrerpodcast ihre Erfahrungen aus 13 Jahren Lehrerinnenleben zu teilen: Tipps und Tricks für den Unterricht, Nützliches aus dem Nähkästchen, alles, was das Lehrerleben leichter macht. Durch die vielen Nachfragen der Hörer*innen kamen Einzelcoachings und Onlinetrainings für Lehrkräfte hinzu. Weitere Informationen und Angebote finden Sie auf Ihrer Seite.

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  • Belastungen im Job: Eliza / photocase
  • Lydia Clahes: privat