Das Gespräch führte Marika Muster.
Frage: Wie hat Mindscool angefangen?
Melanie Wohnert: Interessanterweise hatten wir erstmal an die Lehrkräfte gedacht. Aber diese sagten immer: „Ja, ja, schöne Initiative, aber wir haben keine Zeit. Macht es doch mit den Schülern.“ Und dann haben wir tatsächlich mit Schülerworkshops angefangen und zunächst Klassen über ein halbes Jahr eine Stunde pro Woche begleitet. Inzwischen sind wir nun doch auch sehr viel mit internen Lehrerfortbildungen unterwegs.
Frage: Wie wichtig ist es, die Schulleitung mit im Boot zu haben?
Wohnert: Unserer Erfahrung nach ist das extrem wichtig. Die Frage ist natürlich immer: „Muss sie gleich zu Beginn dabei sein?“ Wenn das Thema aus dem Kollegium heraus angestoßen wird, dann startet es meist mit einer Einmalmaßnahme. Denn für alles andere braucht es die Rückendeckung der Schulleitung.
Wenn die Schulleitung das Thema selbst anstößt, dann ist der erste Widerstand bei einigen der Lehrkräfte da. Die Erfahrung haben wir im letzten Schuljahr gemacht. Da war die Schulleitung einer Grundschule Feuer und Flamme. Und dann saßen zu Beginn des ersten Workshops die Hälfte der Lehrerschaft mit verschränkten Armen da und äußerte gleich in der ersten Runde, dass sie jetzt eigentlich was Besseres zu tun hätten.
Dazu muss man sagen, dass wir sehr gerne mit solchen Widerständen arbeiten! Wir gehen ganz offen damit um, lassen sie da sein und das allein bewirkt schon etwas. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir diese Widerstände in recht kurzer Zeit lösen können.
Frage: Nimmt denn immer das komplette Kollegium teil oder sind die Fortbildungen freiwillig?
Wohnert: Manchmal ist die Teilnahme freiwillig, allerdings eher selten. Normalerweise ist das ganze Kollegium dabei. Bei einem kleinen Kollegium bis zu 20 Lehrkräften kann man gut in einer Gruppe arbeiten. An einem großen Gymnasium, an dem ich in Hamburg war, haben wir die über 100 Lehrkräfte natürlich in mehrere Gruppen aufgeteilt.
Achtsamkeit schafft im Klassenzimmer vor allem eins, und das ist Raum.
Frage: Ist das Konzept so angelegt, dass Lehrkräfte die Achtsamkeit für sich selbst nutzen, oder geht es auch darum, mit den Schüler*innen zu arbeiten?
Wohnert: Wir haben für beides Bausteine und gleichzeitig sind wir da sehr vorsichtig, weil wir der Meinung sind, dass Achtsamkeit nur gut vermittelt werden kann, wenn man sie auch selbst lebt. Wir sind keine Fans von festen Programmen. Damit haben wir angefangen und haben es ziemlich schnell verworfen. Denn unseres Erachtens schafft Achtsamkeit vor allem eins im Klassenzimmer, und das ist Raum. Und damit ich Raum schaffen kann für das, was da ist und das, was sich zeigen will, brauche ich den Raum in mir.
Deshalb ist es uns wichtig, dass die Lehrkräfte die Bausteine erst für sich selbst anwenden und selbst Erfahrungen machen. Erst danach bekommen sie von uns das Handwerkszeug für die Klassen. Die Nachfrage ist oft andersherum. Lehrkräfte sagen häufig: „Ich habe eine wilde Klasse, bitte macht mir meine Klasse ruhig“. Das ist jetzt etwas übertrieben formuliert. In dieses Fällen führen wir zunächst einmal ein aufklärendes Gespräch.
Frage: Wie lange sollten Lehrkräfte Ihrer Ansicht nach für sich Achtsamkeit praktizieren, bevor sie in der Klasse damit arbeiten?
Wohnert: Ein halbes Jahr ist ein guter Richtwert, wobei wir nicht davon ausgehen, dass ein Angebot ein halbes Jahr bei uns gemacht werden muss. Achtsamkeit ist heutzutage nichts Neues mehr. An jeder größeren Schule gibt es bereits Menschen, die privat Achtsamkeit praktizieren und dann stehen die Türen weit offen, das Thema auch in Richtung Klasse zu bringen.
Für Menschen mit Erfahrung geben wir offene, schulübergreifende Workshops, um das Thema in den Unterricht zu bringen.
Frage: Das Wort Achtsamkeit ist immer etwas schwierig, weil jeder sich darunter etwas anderes vorstellt. Gibt es Themen, die als Türöffner funktionieren?
Wohnert: Seit der Pandemie ist dies extrem fokussiert auf Lehrergesundheit. Und das bewegt natürlich auch viele Schulleiter. „Achtsamkeit und Lehrergesundheit“ ist oft ein guter Türöffner und ein sehr gutes Fokusthema für die ersten Workshops. Davon ausgehend ist dann der Boden bereitet für Themen wie Selbstfürsorge, Selbstmitgefühl, was für viele Lehrkräfte aus meiner Erfahrung wirklich auch ein Schatz ist, weil viele unbewusst immer wieder über ihre Grenzen gehen und gucken, dass es allen anderen gut geht und sich dann Sorgen um die Bedürfnisse machen, die von zig Seiten an sie herangetragen werden und bei all dem sich selbst vergessen.
Frage: Wie geht Mindscool mit dem weitverbreiteten Argument um: „Wir haben einfach keine Zeit.“
Wohnert: Dass das ein Irrtum ist und falsch herum gedacht. Denn wenn wir glauben, keine Zeit zu haben für die Dinge, die uns wichtig sind, dann sind wir ja nachweislich in einem anderen Modus unterwegs. Und zwar entweder in unserem Alarmsystem oder, wie ich es gern formuliere, in der „Busy-ness“. Das liegt sehr nah aneinander, wird aber im Körper durch unterschiedliche Hormone verursacht. Und beides treibt uns richtig gut ins Hamsterrad.
Es ist lebensnotwendig, dass wir immer wieder in einen anderen Modus kommen, in dem wir einfach Raum haben zu atmen. Raum haben, um einen Schritt zurückzutreten und zu sehen: Was ist jetzt eigentlich da, was liegt an, was brauche ich? Das ist der Punkt. Da müssen wir hin. Und „ich habe keine Zeit“ gibt es tatsächlich ja gar nicht. Denn es gibt ja niemanden, der mit einem Paket Zeit vorbeikommt, sondern die Frage ist: „Wofür nehme ich mir Zeit?“
Viele nehmen sich die Zeit für Achtsamkeit erst, wenn es zu spät ist, nämlich in der psychosomatischen Klinik. Was wir hier anbieten, ist Prävention. Das ist zwar nicht unser erstes Ansinnen, weil Achtsamkeit so viel mehr ist. Und doch ist es eben nachweislich so, dass durch Achtsamkeit weniger Menschen ausbrennen.
Frage: Inwieweit holen Sie die Schulgemeinschaft inklusive der Eltern ab?
Wohnert: Verschieden. Wir geben vorab Einseiter aus, auf denen wir ganz klar machen, was wir tun, worauf wir gründen. Auch um abzugrenzen, dass unsere Arbeit nicht auf speziellen religiösen Methoden oder Ritualen basiert.
Wenn es gewünscht und machbar ist, bieten wir zusätzlich einen Elternabend an. Oft findet der nach drei bis vier Monaten statt. Dann kann man besprechen: „Wie kommt es an? Was mache ich für Erfahrungen?“ Bis dahin sind dann auch konkrete Fragen da, mit denen man gut arbeiten kann.
Frage: Wie funktioniert die Finanzierung? Das ist ja oft ein Hindernis.
Wohnert: Ja, das ist tatsächlich schwierig. Am Anfang waren wir, als Freundeskreis der Gründer, kostenlos in Schulen. Das hat die Finanzfrage erübrigt, hatte aber natürlich auch Grenzen, da jeder es nur nebenbei gemacht hat. Sehr schnell stellte sich dann die Frage: „Was kann ich mir leisten, an unbezahlter Arbeit in dieses Herzensprojekt zu stecken?“
Irgendwann haben wir dann festgestellt, dass wir uns und die ganze Initiative dadurch begrenzen. Denn so, wie wir es gemacht haben, war es Luxus. Nicht alle Menschen, die in Schulen gehen möchten, die Erfahrung dazu haben sowie auch die Ausbildung, können sich das überhaupt leisten.
So beschäftigt uns das Thema Geld nun seit einigen Jahren und wir sind inzwischen meist so unterwegs, dass wir über regionale Förderstellen gehen und in enger Kooperation mit den Schulen zusammenarbeiten. Wir fragen also die jeweilige Schule, ob sie wissen, was es an Fördertöpfen gibt und welche Erfahrungen sie damit haben und gehen dann in den Lead, was die Antragserstellung angeht. Das klappt mal und mal klappt es nicht.
Bislang haben wir Projekte aber nie scheitern lassen wegen des Geldes. Wir gestalten das Projekt dann manchmal ein bisschen kleiner als ursprünglich gedacht oder gehen dann doch für sehr wenig Geld rein. Finanzierung ist also immer noch ein Thema.
Frage: Ist es eher vorteilhaft oder eher ungünstig, wenn die Schulleitung an den Fortbildungen teilnimmt?
Wohnert: Das ist sehr unterschiedlich. Aus unserer Erfahrung wird die Teilnahme der Schulleitung im Workshop besonders in Sequenzen kritisch gesehen, in denen es darum geht, sich offen zu äußern. In solchen Workshops haben wir bislang immer wieder direkt mit den Schulleitern Commitments getroffen, dass sie in den entsprechenden Sequenzen rausgehen.
Kürzlich haben wir an einer Schule die Erfahrung gemacht, dass der Schulleiter im ersten Workshop zweimal rausgegangen ist in Sequenzen zu achtsamem Zuhören und anschließendem Austausch. In den folgenden Workshops war das dann plötzlich kein Thema mehr. Das hängt natürlich immer sehr von dem Miteinander ab und lässt sich nicht verallgemeinern.
Das ist die erste Fortbildung, in der nicht noch mehr Anforderungen an uns als Lehrkräfte gestellt werden, sondern es mal nur um uns geht.
Frage: Was brauchen Schulleitungen aktuell am meisten?
Wohnert: Zunächst mal brauchen sie einen wirklich starken Willen und Zuversicht, dass dieses Thema hilft, um den Raum wieder zu öffnen – und das tut es unserer Erfahrung nach. Wenn die Menschen wieder zu sich finden, entdecken sie trotz des Bürokratismus wieder Gestaltungsraum.
Als Zweites ist in der Entscheidungsphase herauszufinden: „Wo schaffe ich den Raum für den ersten Workshop? Wie kriege ich das hin?“ Dabei sind schulinterne Fortbildungen am einfachsten zu nutzen. Nebenbei bemerkt: Ich finde es erschreckend, womit die schulinternen Fortbildungen teilweise sonst verwendet werden.
Dazu eine Geschichte. In einer durch uns gestalteten schulinternen Lehrerfortbildung eines großen Gymnasiums saßen zu Beginn einige Lehrkräfte mit ordentlich Widerstand drin. Was ich persönlich mag, weil dann kritische Fragen kommen, die interessant sind. Einer der Lehrer, der mit verschränkten Armen drin saß, sagte in einer Feedbackrunde mittags: „Ich fühle eine große Genugtuung, weil ich feststellen durfte, dass das die erste Fortbildung ist, seit ich an dieser Schule bin – und ich bin seit etwa 20 Jahren hier –, in der nicht noch mehr Anforderungen an uns als Lehrkräfte gestellt werden, sondern es mal nur um uns geht.“
Oft werden Fortbildungen genutzt, um noch eins drauf zu legen auf die eh schon vollen Schultern, die so viel tragen müssen. Während das „Fortbildungsthema“ Achtsamkeit das Gegenteil erlebbar macht, Entlastung bringt, Raum schenkt und eine neue Sicht auf Möglichkeiten. So kann man sich schütteln und wieder frisch anfangen. Aus diesem Raum heraus entstehen ganz neue Ideen. Und plötzlich wird vieles möglich, was vorher unmöglich erschien.
Frage: Haben Sie Beispiele dafür?
Wohnert: Ja, sogar ein ganz aktuelles, von einer Schule, an der das Thema Achtsamkeit durch einzelne Lehrerinnen gestartet wurde, und die Schulleitung anfangs kritisch war.
Dort wurde mit einer schulinternen Lehrerfortbildung begonnen und es war sofort spürbar, dass damit plötzlich die Skepsis raus war. Damit ging der Raum für einzelne Lehrkräfte auf, die selbst schon Achtsamkeitserfahrungen hatten. Zum einen haben die sich überhaupt gefunden. Das ist ja auch nicht selbstverständlich, denn man weiß das nicht unbedingt voneinander. Zum anderen haben sie dann die Köpfe zusammengesteckt und miteinander eine Initiative gegründet, um für die Oberstufe Workshops anzubieten. In dieser Schule gibt es jetzt für die zwölfte Klasse ein Wahlpflichtfach Achtsamkeit.
Eine Oberstufenklasse möchte in ein Achtsamkeitszentrum fahren, um dort miteinander ein Retreat zu erleben.
Neulich kontaktierte mich die eine Lehrerin und sagte, die Schülerinnen und Schüler, die jetzt bei ihr in dem Wahlpflichtfach sind, möchten unbedingt ein Retreat machen. Oh wow, die möchten also nicht auf eine klassische Klassenfahrt fahren, sondern fünf Tage in ein Achtsamkeitszentrum fahren, um dort miteinander ein Retreat zu erleben!
Seien wir realistisch: Die Schulleitung meditiert deswegen noch lange nicht. Muss sie auch nicht. Doch die Möglichkeiten sind dann da, dass so etwas entstehen kann und dass plötzlich Menschen für sich diesen Raum entdecken können. Das ist großartig. Und gerade für die Oberstufenschüler ist es etwas ganz Besonderes, da sie ja gerade auf dem Sprung sind: Wieder raus in einen neuen, freien Raum, den sie selbst so viel mehr gestalten können als bislang zu Hause und in der Schule.
Gerade in dieser Zeit ist es ein ganz besonderes Geschenk, wenn ich diese Erfahrung mache, wie es ist, auch ganz bei mir und mit mir selbst sein zu können. Eben nicht nur die Erwartungen von außen zu hören, den Fächerkatalog oder den Studienkatalog zu sehen. Sondern in mir eine Antwort finden können auf „Was will ich eigentlich mit meinem Leben anfangen? Und was ist mein nächster Schritt?“
Das ist mir immer ein ganz besonderes Anliegen, damit die Schüler*innen, bevor sie die Schule verlassen, noch ihren Herzenswunsch kennenlernen, sich wieder mit ihm verbinden und nicht irgendetwas studieren, weil es angeblich angesehen ist oder später gute Berufschancen hat – so wie es auch mir passiert ist.
Frage: Wie gelingt es, dass Achtsamkeit nachhaltig in Schulen wirken kann und nicht wieder verschwindet?
Wohnert: Wichtig ist, dass es vom Kollegium weitergetrieben wird, also dass sich schulintern eine Initiative bildet. Damit zum Beispiel miteinander praktiziert werden kann. Oder dass man regelmäßig zumindest einen Raum hat, um sich auszutauschen, so dass das weiterlebt.
Frage: Hatten Sie Situationen, die sehr überraschend waren?
Wohnert: Ja immer wieder. Die Situation, die mir als erstes einfällt, war Folgende. Da saß der Schulleiter mit in einem Workshop beim achtsamen Zuhören. Beim Teilen, wie es ihm damit ging, fing er mit den Worten an „Ich habe gerade mit mir gerungen, ob ich das wirklich erzählen soll, aber ich erzähle es jetzt.“ Er berichtete, dass er im Referendariat unvorbereitet in eine Klasse geschickt wurde, als Abschreckung, um niemals unvorbereitet in eine Klasse zu gehen.
Seine Erfahrung war damals aber eine andere. Er fühlte sich bestärkt. In unserem Workshop wurde ihm nun klar, dass er nie wieder einer Klasse so intensiv zugehört hatte, wie in dieser Stunde ohne Konzept. Das hat ihn sehr erschrocken – und gleichzeitig wollte er sein Kollegium nicht zu diesem Vorgehen ermuntern. Diese Erinnerung lag mindestens 20 Jahre in der Vergangenheit.
Das war für uns alle ein Gänsehauterlebnis. Und ich denke, vielen Lehrkräften hat es die Augen geöffnet.
Ich weiß auch, dass Achtsamkeit allein nicht die Antwort ist.
Frage: Haben Sie zum Schluss noch etwas, was Sie den Leser*innen mit auf den Weg geben möchten?
Wohnert: Im Endeffekt ist das, was wir hier tun, nicht primär dafür da, Schule zu optimieren. Sondern uns geht es um einen viel weiteren Rahmen: Was brauchen wir als Menschen gesellschaftlich? Und viele, die da wach hingucken, wissen, dass unser Schulsystem, wie es im Moment ist, dahingehend nicht gut angepasst ist an das, was wir für die Zukunft brauchen.
Ich weiß auch, dass Achtsamkeit allein nicht die Antwort ist. Aber wir schaffen damit einen Grundstein. Achtsamkeit ist wie ein Basismodul – der Humus, auf dem dann anderes wachsen kann. Die Gestaltungsfähigkeit, die durch Achtsamkeit entsteht, brauchen wir mehr denn je. Wir sind immer noch zu sehr auf der Seite der Wissensvermittlung und der Vermittlung von Fähigkeiten, die KI teilweise jetzt schon besser kann als wir. Es geht darum, dass wir uns zurückbesinnen auf das, was uns als Menschen ausmacht.
Dafür müssen wir zurücktreten und gut bei uns sein können. Und wir müssen wieder eine menschliche Verbindung herstellen, jenseits von Rollen und Funktionen, von Mensch zu Mensch.
Danke für das Gespräch!
Melanie Wohnert ist Diplom-Mathematikerin und Trainerin für Mindfulness in Organisationen. Sie war 15 Jahre in der IT-Branche tätig, davon mehr als 10 Jahre in leitenden Funktionen. Achtsamkeitspraxis, Meditation und die damit verbundenen Einsichten veränderten ihr Leben und führte sie auf den Weg ihres Herzens. Sie ist heute selbständig und lehrt Achtsamkeit in Unternehmen und auch in Schulen.
Hier kommen Sie auf die Seite von mindscool.