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Miteinander reden als Chance in der Krise

In der Corona-Krise funktionieren alte Herangehensweisen oft nicht mehr. Lehrerin Nanine Schulz sieht im gemeinsamen Gespräch die Möglichkeit, Neues zu schaffen. Einander achtsam zuzuhören sei ein Schlüssel, neue Erfahrungsräume in der Schule zu eröffnen.

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Das Gespräch führte Sarina Hassine

Frage: Nanine Schulz, es sind harte Zeiten, die Corona-Krise fordert uns alle sehr heraus, besonders auch Lehrer:innen und Schüler:innen. Wie erleben Sie die Situation in der Schule und wie unterstützt Sie die Achtsamkeit momentan?

Nanine Schulz: Ja, wir leben in Zeiten großer Verunsicherung. Eines unserer Grundbedürfnisse ist Sicherheit und das ist ganz und gar nicht befriedigt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Menschen unruhig, ängstlich oder sogar panisch reagieren. Auch im Kontext Schule wirkt sich der Alarm-Modus ungünstig auf das Miteinander aus. So lässt sich weder unterrichten noch lernen. Alle sind sehr bemüht, aber die Anspannung macht sich bemerkbar.

Die Achtsamkeitspraxis ist hilfreich im Umgang mit Ungewissheit: Sie dient uns als Handwerkszeug, um nicht in Panik oder negativen Stress zu kommen. Wenn wir merken, dass Stress oder Angst an uns heranrollen, können wir achtsam innehalten und schauen, was los ist und wie wir agieren wollen.

Frage: Neben dem ganzen Stress – welche Chancen sehen Sie in dieser Krise für Pädagoginnen und Pädagogen?

Schulz: Unsere aktuelle Chance sehe ich genau darin: Innezuhalten und nicht im blinden Aktionismus aus einer Angst oder dem Alarmmodus heraus zu reagieren. Unsere Komfortzone zu verlassen, um in die sogenannte Lernzone zu kommen, ist hilfreich für Veränderungen. Die organisatorischen Anforderungen in der Schule sind allerdings so hoch, dass wir in einen Zustand der Überforderung rutschen, der wiederum flexibles Denken erschwert.

Das ist eine Gradwanderung. Einerseits liegt in der leichten „Verunsicherung“ eine Chance für Veränderung, andererseits darf uns diese nicht überfordern. Im Zustand der Überforderung bietet die Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis eine Chance. Wir sollten uns gegenseitig stützen und stärken.

Die Herausforderungen der Krise werden wir nicht auf dieselbe Art wie immer bewältigen können. Ich weiß auch nicht genau wie, bin aber fest davon überzeugt, dass es anders gehen sollte. In einem ersten Schritt sollten wir erkennen und akzeptieren, was ist, vertrauen und mutig sein.

Wir müssten viel mehr „out of the box“ denken und handeln.

Frage: Wie geht es Ihnen da? Welche Chancen würden Sie gern wahrnehmen?

Schulz: Im Januar 2021 hatte ich das Gefühl, von Schule „aufgefressen“ zu werden. Ich versuchte, die Sachen so wie immer zu machen: ein Abhaken von Aufgaben und Problemen. Ich war in einem „Reaktions-Modus“.

Dabei empfinde ich die Situation gleichzeitig so, dass sich etwas öffnet. Da tun sich viele Möglichkeiten auf, die man gar nicht so „abarbeiten“ kann, wie wir das sonst im Alltag machen. Wir müssten viel mehr „out of the box“ denken und handeln. Noch intuitiver vielleicht und vor allem mehr miteinander.

Ich hatte neulich einen schönen Moment mit den Kolleginnen. In unserem über die Schule hinausgehenden kollegialen Erinnerungstreffen zu Achtsamkeit und Mitgefühl habe ich in die Runde gefragt, lasst uns doch mal ein bisschen schauen, worum es uns geht, was sind eigentlich unsere Visionen und Intentionen als Lehrerinnen?

Eine Kollegin sagte dann: „Ja, es wäre vielleicht wirklich gut, sich mal wieder zu besinnen: Warum bin ich eigentlich Lehrerin geworden? Und was will ich hier eigentlich? Und vielleicht geht’s dann auch echt nicht mehr darum, das Arbeitsblatt abzuarbeiten!“

Frage: Viele Kinder sitzen zuhause im Distanzunterricht und arbeiten die Arbeitsblätter ab. Das kann man hinterfragen und vielleicht anders gestalten. Aber wie Sie schon sagten, auf Seiten der Lehrkräfte gibt es viel Druck und viele Unklarheiten.

Schulz: Wir müssen momentan alle schauen, dass wir gut für uns sorgen. Ich sehe, wie die Leitungsebene in der Schule weit über die normale Arbeitszeit hinaus mit dem Organisieren der Abläufe beschäftigt ist. Es sind zu viele Aufgaben, die bewältigt werden müssen, da ist es schwer, den Raum für Veränderung zu öffnen. Wir planen und organisieren momentan Dinge, die kurze Zeit später wieder verworfen werden. Das ist herausfordernd, teils überfordernd.

Normalerweise macht es einen ja glücklich, wenn man etwas plant und es dann – im besten Fall – funktioniert. Man wird mit Glückshormonen belohnt. Aber das findet gerade zu selten statt. Ich glaube, wir bekommen derzeit alle nicht genügend glückliche Momente auf die gewohnte Art in dieser beunruhigenden Zeit.

Wir sollten unsere Herzen öffnen und schauen, worum es uns wirklich geht.

Frage: Wie könnten wir Glück auf ungewohnte Weise erfahren?

Schulz: Ich lese gerade Otto Scharmer und schaue mir seine Vorträge im Internet an. Er ist Unternehmensberater, außerdem Systemiker und spricht auch über Achtsamkeit. Er sagt, was wir gerade brauchen, um uns zufrieden zu fühlen, ist der Kontakt zu unserem Herzen. Wir sollten unsere Herzen öffnen und schauen, worum es uns wirklich geht.

Er spricht davon, dass wir Erfahrungsräume schaffen sollten, in denen wir Neues erleben und einander zuhören können. Und das glaube ich auch: Wir müssen miteinander reden. Nachdenken, reden, zuhören. Dann kann Neues entstehen. Scharmer spricht von einer Art schöpferischem Zuhören. Das finde ich sehr interessant.

Es gibt für ihn vier Stufen des Zuhörens, bei denen wir von uns ausgehen und uns immer weiter dem anderen, dem Unbekannten und Fremden, öffnen. Bis wir den anderen wirklich hören und in uns etwas passiert. Auf der vierten Stufe des Zuhörens kann dann etwas Neues, Schöpferisches erwachsen. Für so einen Prozess braucht es Bewusstheit, Achtsamkeit.

Frage: Nur wo gibt es dafür Platz im Kontext Schule?

Schulz: Es wäre doch wunderbar, solche Erfahrungsräume in Schulen entstehen zu lassen! Ich würde mir gerne die Zeit nehmen, um mit Kolleg:innen gemeinsame Visionen zu finden. Vielleicht sollten wir auch öfter miteinander „träumen“ und miteinander „Denken ohne Geländer“, wie die Philosophin Hannah Arendt so schön sagte, sich die Fähigkeit erhalten, sich in andere hineinzudenken, hineinzuversetzen.

Neulich habe ich im Klassenraum ein Experiment gemacht und beliebige Gegenstände auf den Boden gelegt. Und dann haben wir angefangen über Erinnerungen, also persönliche Geschichten zu sprechen und einander zuzuhören. Wir haben geschaut, welche Assoziationen die Gegenstände bei jedem einzelnen auslösen.

Die Kinder waren so begeistert von ihren eigenen Erinnerungen und haben gleichzeitig auch einander zugehört. Wir haben gesehen, was gehört zu mir, was gehört zu dir. Wenn ich etwas sage, dann fällt dir wieder etwas ein. Dieses Bezugnehmen aufeinander war sehr spannend und wohltuend.

Es war eine gute Übung für die Kinder: Sie erfahren sich selbst, sie erfahren den anderen. Sie merken, es gibt verschiedene Perspektiven auf die Dinge. Sogar sie selbst sehen manche Dinge unterschiedlich, je nach Situation und Stimmung.

Ich denke, ich werde das weiter in meinen Unterricht integrieren, das achtsame Zuhören und Austauschen. Man kann dabei auch absichtslos über Gefühle sprechen.

Frage: Sie unterrichten seit vielen Jahren schon Achtsamkeit und Meditation in Ihren Klassen. Ist Meditation auch so ein Erfahrungsraum?

Schulz: Ja natürlich. Die achtsame Stille mache ich hin und wieder mit meinen Schüler:innen, das kann ein guter und wichtiger Erfahrungsraum sein. Regelmäßig beginnen wir unseren wöchentlich stattfindenden Theaterunterricht mit einer Zeit der Stille. Den einen Kindern tut das gut und bei den anderen löst es Widerstand aus! Das ist normal und damit zu sein, ist die große Herausforderung.

Es liegt an uns Erwachsenen, Räume zu schaffen, in denen die Kinder die Möglichkeit haben, sich selbst und anderen zu begegnen. Achtsamkeitsübungen mit Kindern können, müssen aber nicht so still wie bei uns Erwachsenen ablaufen. Die besinnlichen Momente liegen oft im Übergang. Wir Erwachsenen können von Zeit zu Zeit zu einem Innehalten einladen. Indem wir zum Beispiel im Spiel, in der Aktivität zum kurzen Innehalten einladen, können Kinder ihr Selbst-Bewusstsein stärken.

Ich persönlich brauche die Meditation als Basis, um den Kindern mit der achtsamen Haltung zu begegnen. Immer wieder innehalten, wahrnehmen, was ist, Raum geben und Phasen der Stille in den Tag einbauen – irgendwann ist das so selbstverständlich wie das Zähneputzen am Morgen.

Der Erfahrungsraum, der sich uns Erwachsenen, uns Pädagog:innen gerade bietet, ist unter anderem dieses Innehalten. Und wir sollten das Innehalten ernst nehmen. Wirklich hingucken. Die Dinge beobachten, erkennen, benennen und dann schauen, was wir damit machen wollen – ob wir es kultivieren wollen oder es lieber gehen lassen wollen. Wir sollten uns fragen, was wir wirklich wollen.

Die Achtsamkeit ist dazu ein wunderbarer Begleiter. Sie hilft uns, an diesen Ort bei uns selbst zu gehen, wo wir klar und ruhig sind. Und dann, von diesem ruhigen inneren Ort aus, sollten wir einander Zuhören und neue Wege gehen, die uns alle glücklich machen.

 

Foto Nanine SchulzNanine Schulz ist Lehrerin und Theaterpädagogin. Außerdem ist sie systemische Beraterin und begann bereits 2011 als eine der Pionierinnen in Deutschland Elemente der Achtsamkeit in die Erika-Mann-Grundschule in Berlin Wedding zu tragen. Sie bildet auch Lehrer:innen aus (innerhalb der Weiterbildung von Susanne Krämer, Wache Schule) und bietet Pädagog:innen im Rahmen der Regionalen Fortbildung 8-Wochen-Kurse zum Thema Achtsamkeit und Mitgefühl an.

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  • Gespräch am See: Priscilla du Preez / Unsplash
  • Nanine Schulz: Privat