Glaskugeln

Morgen, Kinder, wird’s was geben

Heiligabend ist voller Augenblicke heller Freude und unvermeidlicher Enttäuschung. Denn die Realität kann selten mit den Erwartungen im Kopf mithalten. Berenice Boxler schreibt, wie ihr die Achtsamkeit hilft, damit umzugehen.

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„Morgen, Kinder, wird’s was geben, morgen werdet ihr euch freu’n!“ Wer kennt es nicht, dieses alte Weihnachtslied? Von klein auf gibt es für mich diesen Zauber rund um den Heiligabend: das Warten auf die Dämmerung, der Schnee vor dem Fenster, die Glocke, der Baum, die Kerzen und ja, natürlich die Lieder.

Aber Weihnachten hat sich verändert. Inzwischen bin ich Mutter und habe eine Familie. Die Weihnachtszeit und Heiligabend sind bei uns voller Augenblicke großer Freude – und unvermeidlicher Enttäuschung. Denn die Realität hält sich nicht an unsere Erwartungen.

Jeder hat andere Erwartungen – oder?

Bei mir gibt es Erwartungen, die sich zum einen aus einem kindlich-nostalgischen Teil speisen, der sich an abendlichen Stadtspaziergängen, Plätzchen und an „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ erfreuen möchte. Zum anderen ist da ein erwachsener Teil, der eine Pause von der Arbeit braucht und sich einfach auf die freien Tage freut, Erwartungen an Ausschlafen und Bücher lesen hat.

Dann gibt es Erwartungen an ein gemütliches Zusammensein mit der Familie. Also hoffe ich, dass die Kinder Verständnis haben, dass das Christkind eben nicht alle sechs Lego-Ninjago-Sets bringen konnte. Und ich hoffe, dass sie Freude haben an dem Kapuzen-Pullover, auch wenn er nicht auf der Liste stand.

Meinem Partner ist es wichtig, dass es keinen Streit gibt. Außerdem hat für ihn Weihnachten eine andere Atmosphäre, als ich sie kenne – weniger festlich und mit einem immer gleichen Plastik-Baum.

Und was bedeutet Weihnachten für die Kinder? Die freuen sich auf den Ferienbeginn, haben Spaß, wenn wir Plätzchen backen und streiten sich darum, wer wann die Adventskerzen anzünden darf. Außerdem warten sie ungeduldig auf das Aufstellen und Schmücken des Baums. Aber eigentlich läuft der Zeitstrahl nur auf eines hinaus: Die Geschenke auspacken.

Erwartungen loslassen

Loslassen und Sein-Lassen, das sind ungemein wertvolle Qualitäten der Achtsamkeitspraxis. Wir lassen täglich los: den Atem, den Tag, wenn wir in den Schlaf treiben, wir versenden Nachrichten, wir ziehen um oder geben alte Kleidung ab. Aber können wir Erwartungen loslassen?

Das einzige, was ich tun kann, ist, meine Erwartungen zu erkennen und achtsam zu bemerken, wenn es zu eng wird. Bemerken, wenn in mir kein Raum mehr da ist für das, was gerade ist, wenn ich in den Widerstand komme und nicht mehr im Kontakt bin mit der Situation und meiner Familie.

Erwartungen sind Gedanken, und Gedanken kommen und gehen. Es kann sehr wertvoll sein, sich immer wieder die Frage zu stellen: „Das, was ich gerade denke, ist das hilfreich?“

Ich kann erkennen, dass meine Gedanken und Bewertungen z.B. zum Ausbleiben von Schnee bei mir Traurigkeit und Wehmut auslösen. Ich weiß eigentlich, dass die Wünsche und Angebote für die heutigen Kinder ganz andere sind als die meiner Generation vor 30 Jahren. Daher kann ich achtsam bemerken, wie mein Geist bewertet, sich als scharfer Kritiker aufspielt darüber, was die Kinder sich wünschen, und das meine Stimmung trübt.

Die Kinder sind zumindest zeitweilig enttäuscht, dass sie nicht alles bekommen haben? Das kann ich beinahe schon vorhersagen, und mich also auch vorbereiten. Mein Partner ist enttäuscht, dass die Kinder sich selbst an Weihnachten nicht gut vertragen? Auch das wird wahrscheinlich so sein, denn sie sind Kinder.

Akzeptanz ist das Zauberwort: Die Dinge dürfen sich einfach ändern. Und ich kann meine Gedanken und Einstellungen ändern und mit der Zeit gehen.

Fokus auf das Wichtige

Die achtsame Haltung und der Umgang mit der eigenen Erwartungshaltung machen meine Erfahrungen nicht weniger intensiv, aber ich kann das, was an Weihnachten geschieht, weniger persönlich nehmen. Das hilft mir, in heiklen Situationen wieder in ein inneres Gleichgewicht zu kommen.

Dadurch kann ich mich wieder auf das fokussieren, was mir eigentlich wichtig ist: das Leben, wie es sich von Moment zu Moment entfaltet.

In dem Moment, wenn ich mich für die anderen wirklich öffne ohne meinen inneren Filter von richtig und falsch, bemerke ich, wie meine Erwartungen in den Hintergrund treten. Bin ich in Kontakt mit den Gefühlen meiner Kinder, mit meinem Partner und mit mir selbst, rückt die Qualität der Beziehung in den Vordergrund.

Dadurch ergibt sich ein anderer Fokus: weg von meinen Erwartungen und Enttäuschungen, hin zur Verbundenheit mit meiner Familie, zu unseren Gemeinsamkeiten und dem, was sich in uns und zwischen uns von Moment zu Moment entwickelt und entsteht.

Denn Veränderung findet selten von jetzt auf gleich statt. Sie ist ein Prozess, den ich bemerken möchte – und nicht verpassen, weil ich immer nur schaue, was ich gerne anders hätte. Das Leben findet immer jetzt statt.

Aber zum Glück gibt es auch ein paar Konstanten: Aschenbrödel reitet am Ende der Geschichte jedes Mal glücklich auf ihrem Pferd „Nikolaus“, in wunderschönster Schneelandschaft der Hochzeit entgegen.

Berenice Boxler

Berenice Boxler ist Achtsamkeitslehrerin und Autorin in Luxemburg. Auf ihrer Webseite veröffentlicht sie regelmäßig Artikel zum Thema Achtsamkeit. Dort gibt es auch zahlreiche Meditationen (auch speziell für Eltern) zum freien Download. Für das Arbor Online Center hat sie einen Selbstlern-Kurs erstellt: „Ein innerer Kompass – Achtsamkeit für Eltern“.  Mehr Informationen hier

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  • Weihnachtliche Erwartungen: powermind / photocase.de
  • Berenice Boxler: privat