Walderfahrung

Naturverbundenheit leben

Mirjam Luthe ist inspiriert von der Natur und spürt eine tiefe Verbundenheit. Sie berichtet von Studien, welche die Wirkung der Natur auf den Menschen untersuchen und beschreibt, wie wir unser Erleben bewusst vertiefen können.

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Gedanken von Mirjam Luthe, aufgeschrieben von Marika Muster

Unser Weltbild basiert auf der falschen Vorstellung, dass Mensch und Umwelt getrennt sind, dass wir über der Natur stehen. Das steckt seit vielen Generationen in uns. Aber wer bin ich denn, dass ich denke, dass es einem Regenwurm nicht wehtut, wenn ich ihn zerreiße? Wir verstehen so vieles nicht. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, wie ein Schwarm Vögel in Formation fliegt. Und doch lässt es uns zutiefst staunen, wenn wir bewusst innehalten und für solche Wunder der Natur offen sind.

Auch Pflanzen haben eine Intelligenz, sogar kooperative Mechanismen. Die Kommunikation findet über komplexe Systeme wie Wurzeln und Myzelien statt. Dabei agieren Pflanzen nicht nur untereinander, sondern wirken auch direkt auf uns Menschen. So scheint das Wahrnehmen von Bäumen das parasympathische Nervensystem zu stärken und uns zu entspannen.

Studien zeigen: Die Natur lässt uns entspannen

In einer Studie wurde festgestellt, dass Menschen insbesondere in der Nähe von Waldgebieten eine gesündere, entspanntere Aktivität der Amygdala aufwiesen – eines recht kleinen Teils unseres Gehirns, der maßgeblich am Auslösen von Stressreaktionen mitwirkt. 1) In den letzten Jahren wurden auch die gesundheitlichen Effekte der japanischen Praxis des Waldbadens erforscht. 2) Es zeigte sich, dass sogenannte Phytoncide, gewisse abwehrstärkende Duftstoffe, die von Bäumen verströmt werden, sich positiv auf das Immunsystem auswirken sowie die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin vermindern 3) und antidepressiv wirken 4).

Außerdem können Bäume intensive Gefühle von Ehrfurcht 5) in uns auslösen. Aber eigentlich ist jede Erfahrung in der Natur dazu geeignet, die Naturverbundenheit wieder zu stärken. Die Sinneseindrücke, die unser Körper „draußen“ geschenkt bekommt, können uns dabei helfen, uns selbst bewusster zu spüren, vor allem, wenn wir unsere Aufmerksamkeit beständig darauf ausrichten, mehr und intensiver wahrzunehmen.

Und ist „draußen“ wirklich „draußen“? Wie ist es mit der Natur in uns, mit den Elementen in uns, wir Lebewesen aus Sternenstaub, die mit dem Tod wieder zur Erde zurückkehren?

Ein Grund dafür, warum wir in der Natur Stress abbauen, könnte die Fähigkeit unseres Körpers sein, in Stress-Situationen an einem anwesenden entspannteren Nervensystem “anzudocken”, indem wir in Resonanz mit diesem Gegenüber gehen 6). Dieses Phänomen ist bisher vor allem für das Verhältnis zwischen Eltern und kleinen Kindern oder auch Klient*innen und Therapeut*innen beschrieben worden, aber auch in der tiergestützten Therapie mit Hunden, Pferden und Delphinen beobachtbar.

Mit der Natur in Resonanz gehen

Dieses bewusste „In-den-Dialog-Gehen“ ist mit fast allem möglich, was uns draußen begegnet: Mit Bäumen, Kräutern, Insekten, Vögeln, sogar mit Gewässern oder Steinen. Wir können uns dafür bewusst in sie hineinversetzen, beispielsweise indem wir die Frage stellen: “Wie ist es, du zu sein?” und dann wahrzunehmen, was wir in uns selbst fühlen, hören, sehen, spüren können.

Unser Nervensystem überprüft unbewusst unsere Umgebung darauf, ob sie „sicher“ genug ist, um unser Überleben zu garantieren. Bei kleinen Kindern entsteht das Gefühl von Sicherheit unter anderem durch die Nähe zu Eltern, die sich selbst sicher fühlen, entspannt und aufmerksam auf das Kind eingestimmt sind. So lernt es von Anfang an, Zustände von Stress oder Entspannung in anderen wahrzunehmen und sich daran zu orientieren.

In der Natur findet unser Nervensystem viele entspannte und gut regulierte, aufmerksame Wesen. Besonders leicht für uns wahrzunehmen ist die Entspannung bei Singvögeln: Während sie singen, sich putzen, nach Nahrung suchen oder ihr Nest bauen, spürt auch unser Nervensystem instinktiv, dass gerade keine Gefahr droht. Hören wir dagegen die atemlose Stille oder fiepende Alarmrufe, wenn ein Sperber oder Habicht in der Nähe ist, lässt sich die Anspannung auch in unserem Körper spüren.

In der Natur müssen wir nichts leisten

Ein weiterer Grund für unsere Entspannung in der Natur ist, dass wir in unserem Alltag viel Stress erleben, weil wir als Mensch eine Rolle haben, einen Namen, einen Status. In der Natur müssen wir niemand sein. Den Bäumen und Blumen ist es egal, ob wir arm sind, reich oder gebildet. In der Natur relativiert sich das, da sind wir Gast. Wir können uns öffnen. Ganz ohne Leistungsanspruch. Vielleicht manchmal mit tiefem Respekt, ja, sogar Demut vor dem Leben.

Eher mit einer Seins-Qualität, die davon loslässt, etwas kontrollieren zu wollen. So kann das Starre, Rigide in uns wieder ins Fließen kommen; wir können zulassen, weicher zu werden und einfach sein zu dürfen anstatt ständig tun zu müssen. Fernab von lauten Autos und Straßen beruhigt sich unser Nervensystem. Mit Bewegung, Luft und Sinneseindrücken spüren wir uns wieder. Es darf sich etwas öffnen. Wir dürfen Empfangende sein.

Inspiration für Naturerleben

Spüre den Wind, wie er zart dein Gesicht streichelt. Fühle die Textur des Bodens unter dir, wenn du barfuß oder mit dünnen Sohlen über Wiesen oder den Waldboden läufst. Berühre bewusst Moose, Kräuter, Baumrinden und vieles mehr mit deinen Händen. Tauche deine Hände in kaltes Wasser und spüre den feuchten Sand eines Bachbetts zwischen deinen Zehen.

Mit Achtsamkeit in der Natur können wir uns darin üben, tiefer zu lauschen, zu sehen und zu fühlen. Dann sehen wir mehr Schönheit und Lebenswunder. Wie heilsam wäre es, wenn auch wir Menschen unseren einzigartigen Platz tiefer verstehen und weiser leben würden – zum Wohlergehen unserer selbst, unserer Mitmenschen und allen Lebens, dessen Teil wir auf diesem Planeten Erde sind.

Achtsamkeitspraxis kann uns darin unterstützen, unser Verbundensein zu verstehen. Sie kann uns unterstützen, aus Liebe zum Leben mit Freude und Dankbarkeit Qualitäten wie Offenheit, Vertrauen und Mut in uns und anderen zu stärken. Und darin hat jede*r eine Wirkmächtigkeit. An jeder Stelle im Lebensnetz hat eine Aktion untrennbar eine Auswirkung. Und so hat auch alles Lebensbejahende, das wir jetzt und hier erleben und tun, eine Relevanz für das Ganze.

 

Mirjam Luthe M.A. unterrichtet als Achtsamkeitslehrerin am Susan Samueli Integrative Health Institute der UC Irvine in Kalifornien. Sie ist Referentin im Rahmen des MOOC “Designing Resilient Regenerative Systems” an der ETH Zürich. Sie ist im Koordinationsteam des Europäischen Netzwerks „Dankbar leben“, initiiert von Bruder David Steindl-Rast tätig und unterstützt das Organisationsteam der jährlichen Summer School „Cortona Woche“ an der Schnittstelle von Wissenschaft und Spiritualität. Seit 2016 zunächst im Bereich „Teachers Relations” und aktuell „Global Engagement“ international für das Center for Mindful Self-Compassion am UCSD Center for Mindfulness in San Diego tätig und aktuell als Referentin für Arbor Seminare und für das AVE Institut. Mehr auf ihrer Seite.

 

  1. Kühn, S., Düzel, S., Eibich, P. et al. In search of features that constitute an “enriched environment” in humans: Associations between geographical properties and brain structure. Sci Rep 7, 11920 (2017). Link
  2. Mehr Infos auf der Seite des Bundesverbandes Waldbaden
  3. Li Q, Kobayashi M, Wakayama Y, Inagaki H, Katsumata M, Hirata Y, Hirata K, Shimizu T, Kawada T, Park BJ, Ohira T, Kagawa T, Miyazaki Y. Effect of phytoncide from trees on human natural killer cell function. Int J Immunopathol Pharmacol. 2009 Oct-Dec;22(4):951-9. doi: 10.1177/039463200902200410. PMID: 20074458. Link
  4. Phytoncides: The Science Behind Forest Bathing Benefits – Forest Bathing Central
  5. Why Trees Can Make You Happier | Greater Good Magazine (berkeley.edu)
  6. The Biology of Calm: How Downregulation Promotes Well-Being (goodtherapy.org)
  7. Porges SW. The polyvagal theory: new insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system. Cleve Clin J Med. 2009 Apr;76 Suppl 2(Suppl 2):S86-90. doi: 10.3949/ccjm.76.s2.17. PMID: 19376991; PMCID: PMC3108032. Link

Buch- und Film-Empfehlungen

Robin Wall-Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen, Aufbau Verlag, 2021

„Das geheime Leben der Bäume“ mit Peter Wohlleben, Constantin Film, 2020 (Mehr Infos hier.)

Dokumentarfilm „Aware – Reise in das Bewusstsein“, Frauke Sandig und Umbrella Films, 2020; Regie und Drehbuch: Frauke Sandig und Eric Black

 

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  • Walderfahrung: Weigand / photocase.de
  • Miriam Luthe-low-rund: Rui Camilo