Lehrer genervt

„No mindfulness without heartfulness“

Stress im Job kann dazu führen, dass Lehrkräfte sich emotional zurückziehen, weniger mitfühlend oder zynisch werden. Der Erziehungswissenschaftler Detlev Vogel erläutert verständnisvoll das Phänomen und zeigt, wie man wieder zueinander findet.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Lehrpersonen wählen in aller Regel ihren Beruf, weil ihnen an guten Beziehungen zu den Schüler*innen gelegen ist – sie haben beim Berufseinstieg überwiegend eine positive und empathische Haltung den Lernenden gegenüber.

Doch ist es nicht leicht, diese Haltung über viele Jahre aufrecht zu erhalten. Hohe Arbeitsbelastung und vielfältige Stressfaktoren führen mitunter dazu, dass Lehrpersonen sich emotional zurückziehen – ein Prozess der Depersonalisierung setzt ein, der zu mangelndem Mitgefühl und teilweise auch Zynismus führen kann.

Aber auch ohne diesen Prozess, der oft mit Burnout einhergeht, fällt es uns nicht immer leicht, uns in Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen – wir sind in unserer eigenen Perspektive gefangen. Es fällt uns in der Regel noch leicht, Mitgefühl Menschen entgegenzubringen, die uns nahestehen. Schwieriger wird es oft mit Menschen, die uns fremd sind oder die uns vielleicht einfach weniger sympathisch sind.

Hilfe bei Mitgefühlsmüdigkeit

Ein Gefühl von Unlust und Ungeduld gewissen Patient*innen gegenüber, ist z.B. auch bei Therapeut*innen häufig Thema und wird hier als eine sogenannte „Mitgefühlsmüdigkeit“ (Compassion Fatigue) beschrieben. Hilfe für den Umgang mit so einem Zustand finden Therapeut*innen dann in ihrer Supervisionen – ein Angebot, das auch Pädagog*innen zur Verfügung gestellt werden könnte.

Wie können sich engagierte Pädagog*innen aber zunächst selbst unterstützen?

Ein Element von Achtsamkeit ist die Kultivierung von Mitgefühl. In einem Achtsamkeitstraining lernen wir mithilfe von Imaginationsübungen, auch Menschen, die uns weniger nahestehen, eine positive, verständnisvolle und wohlwollende Haltung entgegenzubringen. Besonders Lehrpersonen brauchen diese Fähigkeit in hohem Maße – da sie sich immer wieder in die Perspektive der Lernenden, in ihre Gefühlswelt und ihr Denken hineinversetzen müssen.

Mit anderen Worten sollten sie in vielen Situationen nicht nur vom Kopf aus, sondern auch mit dem Herzen agieren. Im Englischen gibt es die Formel: „no mindfulness without heartfulness“ (sinngemäss übersetzt: „keine Achtsamkeit ohne Herz“).

Was heisst das konkret für die Arbeit als Lehrperson?

Wir können immer wieder versuchen, die Welt oder auch bestimmte Situation mit den Augen des Kindes bzw. des Jugendlichen zu sehen. Wir können versuchen, uns in die emotionale Welt der Kinder einzufühlen, ebenso in ihr Empfinden innerhalb des sozialen Feldes der Klasse und in die emotionalen Aspekte des Leistungsdrucks. Achtsamkeit heisst hier: tiefes Verstehen, genau hinschauen und hinspüren.

Die beschriebene Haltung ist Grundlage für den Aufbau positiver und unterstützender Beziehungen. Was aber kann eine Lehrperson ganz konkret für positive Beziehungen zu all ihren Schüler*innen tun? Jeder Lehrperson fällt es leicht, zu bestimmten Kindern gute Beziehungen aufzubauen, z. B. zu den offenen, den aktiven und vielleicht auch den eher angepassten Kindern.

Beziehung Abklatschen
Gute Beziehungen erleichtern den Unterricht

Gute Beziehung zu den „schwierigen Kindern“

Aber jede Lehrperson hat auch Schüler*innen, mit denen es schwerfällt: die verschlossenen und stillen, aber vor allem auch die „schwierigen“, Kinder, die oft stören, die sich mit Disziplin und Zuverlässigkeit schwertun. Oft sind wir dann geneigt, ihnen unsere Aufmerksamkeit und Zuwendung zu entziehen, in der – oft unbewussten Annahme – dass das Kind dann schon merkt, dass ein bestimmtes Verhalten nicht erwünscht ist.

Allerdings ist es fast nie eine Sache des Wollens, denn Kinder machen ihre Sache gut – wenn sie es können! Jedes Verhalten von Kindern und Jugendlichen hat Gründe. Diese sind oft nicht direkt sichtbar, aber wir können versuchen sie zu verstehen.

Um besonders die Beziehung mit diesen Kindern zu stärken, können wir bewusst bestimmte Beziehungs-Botschaften (Vogel, 2019b) vermitteln, die den Kindern zeigen, dass wir uns für sie als Mensch interessieren, nicht wegen einer bestimmten Leistung oder eines bestimmten Verhaltens, sondern einfach so.

Herausfordernde Kinder haben in ihrer frühen Kindheit oft keine sicheren Bindungen aufbauen können (Brisch, 2019), sie benötigen deshalb vor allem emotionale Sicherheit – einen sicheren Hafen, wie es in der Bindungspsychologie heisst. Diesen können wir ihnen schaffen durch verschiedene Beziehungsbotschaften, wie sie folgend aufgeführt sind.

Beziehungsbotschaften und deren Kommunikation

  • Ich interessiere mich für dich: Beobachte das Kind bei etwas, was es gerne tut oder gut kann.
  • Ich akzeptiere dich, so wie du bist: Wenn es zum wiederholten Male zu Störungen kam, bringe ruhig, klar und empathisch zum Ausdruck, welches Verhalten du dir wünscht.
  • Erwachsene helfen dir: Sage dem Kind vor einer schwierigen Aktivität, dass du da bist und jederzeit helfen kannst.
  • Ich bin da, auch wenn es schwierig ist: Höre dem Kind zu und zeige, dass du seinen Standpunkt verstehen möchtest, auch wenn es z. B. beschuldigt wird, einen Streit begonnen zu haben.
  • Ich lese deine Signale und reagiere auf sie: Sei aufmerksam, wenn ein Kind verändert wirkt und nimmt dir Zeit zu fragen, was passiert ist.

Investieren in die Beziehung lohnt sich

Es erfordert von der Lehrperson zusätzliche Energie, im Alltag in kleinen Momenten dem Kind immer wieder diese Botschaften zu vermitteln – manchmal nur durch kleine Gesten oder ein Augenzwinkern. Ganz sicher aber bewirkt dies eine positive Entwicklung der Beziehung zu diesem Kind – und, nicht unwahrscheinlich, auch eine Reduzierung des auffälligen Verhaltens. Und so sparen wir uns eine Menge Energie für Ermahnung, Sanktionierung und ähnliches.

Lehrperson sein heisst in Beziehung sein oder wie Martin Buber (1999) es ausdrückte: „Pädagogisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung.“ Es lohnt sich, diesem essentiellen Aspekt des Lehrpersonseins trotz aller anderen Anforderungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken – für unsere Schüler*innen, vor allem aber auch für uns selbst. Achtsamkeit bietet ein gutes Fundament dafür.

Detlev Vogel

 

Quellen & Literaturhinweise

Brisch, K. H. (2019). Grundschulalter. Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Therapie. Stuttgart: Klett- Cotta.

Buber, M. (1999). Reden über Erziehung. Rede über das Erzieherische – Bildung und Weltanschauung – Über Charaktererziehung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Arch, J. J., & Craske, M. G. (2006). Mechanisms of mindfulness: Emotion regulation following a focused breathing induction. Behavior Research and Therapy, 44, 1849–1858.

Dekeyser, M., Raes, F., Leijssen, M., Leysen, S., & Dewulf, D. (2008). Mindfulness skills and interpersonal behaviour. Personality and Individual Differences, 44, 1235–1245.

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Jimenez, S. S., Niles, B. L., & Park, C. L. (2010). A mindfulness model of affect regulation and depressive symptoms: Positive emotions, mood regulation expectancies, and self-acceptance as regulatory mechanisms. Personality and Individual Differences, 49, 645–650.

Marzano, R. J., Marzano, J., & Pickering, D. (2003). Classroom Management that Works. Alexandria, VA: ASCD.

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Vogel, D. (2019a). Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung? Ein Überblick zum Forschungsstand und Ergebnisse eigener Forschung. In Vogel & Frischknecht-Tobler (Hrsg.), Achtsamkeit in Schule und Bildung. Bern: hep-Verlag.

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Weitere Informationen

Der Text ist ein Auszug aus dem Vortrag von Detlev Vogel für das Symposium Pädago­gik der Achtsamkeit der Universität Wien, das in jedem Semester zusammen mit den Studierenden des Seminars Achtsam­keit und Mitgefühl in der Schule veranstaltet wird. Zum Symposium werden internationale und regionale Referent*innen eingeladen, die über ihre Forschungen und Praxis­projekte berichten. Außerdem werden Formen der Achtsamkeits­praxis für Schule und Lehrer*innen­bildung vorgestellt. Bisher wurden neun Symposien veranstaltet – Details dazu finden Sie hier.

 

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Gute Beziehungen sind mehr als ein Soft-Faktor

Detlev Vogel ist Erziehungswissenschaftler und Montessoripädagoge und war mehrere Jahre Lehrer und Schulleiter. Er lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Luzern zum beziehungsorientierten Umgang mit auffälligem Verhalten und zu Achtsamkeit in der Schule. Letzteres hat er in der Aus- und Weiterbildung an der PH Luzern etabliert. Diverse Publikationen sowie Co-Herausgeber des Sammelbandes: Vogel, D.; Frischknecht-Tobler, U. (Hrsg.) (2019): Achtsamkeit in Schule und Bildung. Vogel ist Vater von zwei erwachsenen Töchtern und praktiziert seit 30 Jahren Achtsamkeit.

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  • Genervter Lehrer: David-W- / photocase.de
  • Gute Beziehungen im Klassenzimmer: Drazen Zigic / istock
  • Detlev Vogel: privat