Anemonenfisch

Teenager und Achtsamkeit – zwischen Neugier und Skepsis

Der Anemonenfisch aus „Findet Nemo“ folgt seiner Neugier, sein Vater lernt zu vertrauen. Ähnlich ist es beim Vermitteln von Achtsamkeit an Teenager. MBSR-Lehrer René Spielmann schreibt, was es zu beachten gibt.

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Nähme man einmal an, man wäre nicht erwachsen und stünde fest verwurzelt auf zwei Füßen im Leben. Nähme man weiterhin an, man würde sich vor lauter Desinteresse an Meditation, Yoga, Thai-Chi oder Ähnlichem gar nicht retten können.

Nähme man also mal an, man habe lauter fröhliche Flausen im Kopf, wäre in stillen Momenten voller emotionaler Wünsche und Träume, gleich darauf jedoch vollgestopft mit ablehnenden Gefühlen gegenüber Älteren, Jüngeren, Andersdenkenden, Andersaussehenden…

Nähme man an, man wäre inmitten des eigenen Prozesses des Erwachsenwerdens, kurz der eigenen Pubertät. Hätte man Lust auf „irgendeine Achtsamkeitspraxis“, deren Sinn sich nicht von jetzt auf gleich erschlösse? Hätte man nicht mindestens zwei Schwärme von Hummeln im Hintern und rutschte von einer Backe auf die andere?

Wie die Anemonenfische: neugierig & vorsichtig

Als ich damit begann, mein Projekt „Achtsamkeit in der Schule – Zeitpiraten“ in Klassen mit Teenagern vorzustellen, hatte ich mich also darauf einzustellen, dass ich es mit mehreren Anemonenfischen wie in „Findet Nemo“ zu tun bekommen würde.

Mal würden sie neugierig aus ihrer Höhle herausschwimmen, sich vielleicht locken lassen, selbst neugierig sein, dann wiederum skeptisch schauen und sich zurückziehen. Irgendwann würden sie einen neuen Versuch wagen. Hauptsache es machte ihnen Spaß und es wären da coole Meeresbewohner:innen zum Kennenlernen. Auf jeden Fall zunächst einmal regelmäßig die Umgebung scannen, umschauen, chillen.

Als Lehrende wissen wir, wozu den Jugendlichen die Achtsamkeit dienen kann. Damit unser Wissen beim Gegenüber ankommt, reicht es aber nicht aus, dass wir von der Sinnhaftigkeit überzeugt sind. Wie kommt unser Vorhaben bei den jungen Erwachsenen an? Wie schaffen wir es, unsere Chance nicht gleich zu Anfang zu verspielen? Ein achtsamer Drahtseilakt, ach was schreibe ich: eine hochseilartistische Kür hatte ich mir vorgenommen. Sehr dünnes Eis.

Vertrauen aufbauen

Ein wichtiger Aspekt ist die persönliche Beziehung zu den Schüler:innen. Ist man in gutem Kontakt miteinander, geht natürlich vieles viel leichter. Wenn man also motiviert ist, Achtsamkeit in seine Klasse oder von außen in die Schule zu tragen, macht es Sinn, sich die Zeit für Vorgespräche mit den Jugendlichen zu nehmen und dabei die Beziehung aufzubauen oder zu pflegen.

Man kann ins Gespräch kommen darüber, welche Themen es gibt und für welche die Jugendlichen sich interessieren, z.B. Umgang mit Stress, Prüfungsangst, Leistungsdruck, sich selbst verstehen, mit Emotionen umgehen usw.

Und schließlich haben Jugendliche ein sehr feines Gespür dafür, ob Ihnen etwas zum Konsumieren vorgelegt wird oder ob ihre Beteiligung gefragt ist. Bietet man Achtsamkeitstraining an, sollten die Teenager sich persönlich angesprochen fühlen und spüren, dass sich jemand wirklich für sie und ihre Erfahrungen interessiert.

Es geht doch um sie, oder?

Und genau das haben Jugendliche sehr auf dem Schirm. Sie spannen den Schirm im Vorgespräch genau vor unserer Nase auf. Das sollten Lehrende zulassen. Wie wohltuend frisch weht dann so manches Mal der Wind!

Gleichzeitig kann man in einem Vorgespräch als Lehrende:r die eigene Motivation für seine Praxis glaubwürdig vermitteln. Warum praktiziere ich? Was gefällt mir, welche Schwierigkeiten gibt es? Das schafft Vertrauen und bietet eine große Chance, Jugendliche zur Teilnahme zu ermuntern.

Freiwillige und bewusste Entscheidung

Ein anderer wichtiger Schlüssel ist die Freiwilligkeit. Die Jugendlichen sollten sich nach Möglichkeit freiwillig dazu entscheiden können, bestimmte Erfahrungen zu machen – sei dies eine stille Meditation, eine Reflektion der eigenen Emotionen oder ein achtsamer Dialog mit den Mitschüler:innen.

In der buddhistischen Lehre, aus der das heute vielerorts vermittelte Achtsamkeitstraining „herausgelöst“ ist, wird nicht nur oberflächlich darauf hingewiesen, dass es einer freiwilligen, bewussten Entscheidung zur Teilnahme bedarf. Und mir ist es wichtig, diesem Anspruch gerecht zu werden. Die bewusste Entscheidung für den persönlichen  „Erkenntnisprozess“ gehört für mich in schulische Achtsamkeitsangebote für Teenager dringend hinein.

Der Anemonenfisch musste seiner Neugier freien Lauf lassen dürfen und ihr folgen lernen. Ja, er musste seine inneren Antriebe wahrnehmen und üben seine Ziele zu identifizieren. Nemos Reise war nicht von außen aufoktroyiert, sondern folgte einem inneren, sicheren Gespür. Dieses sichere Gespür für sich und seine Entscheidungen, dass lehrt uns die Achtsamkeitspraxis. Das ist für mich einer der Gründe, warum diese Praxis auch in unsere Schulen gehört.

Lassen wir die Jugendlichen selbst mitentscheiden, was und wie sie lernen wollen: Was interessiert sie an der Achtsamkeit? Welche „Tools“ brauchen sie wirklich? Wohin führt sie ihre Neugier? Stellen wir ihnen dann – selbst neugierig auf den Weg – unser Wissen zur Verfügung. Und geben wir ihnen die Zeit, das Wissen zu begreifen und sich das Erlebte zu eigen zu machen.

Dem Entstehen vertrauend.

René Spielmann

René Spielmann, B.A., ist zertifizierter MBSR-Lehrer und staatlich anerkannter Sozialpädagoge. Er arbeitet für den Jumäx Jena e.V. als Schulsozialarbeiter an der GMS "Galileo" in Jena-Winzerla und ist federführend im Jenaer Pilotprojekt "Achtsamkeit in der Schule - Zeitpiraten". Er absolvierte die MBSR-Lehrerausbildung bei Béatrice Heller, Lienhard Valentin und Bob Stahl und sammelte Erfahrungen im Thüringer Modellprojekt "Achtsame Hochschulen" unter der Leitung von Prof. Dr. Mike Sandbothe und PD Dr. Reyk Albrecht. Hier kommen Sie auf seine Seite.

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  • Teenager sind wie Anemonenfische: behrchen / photocase.de
  • René Spielmann: privat