Bäumeklettern

Vom Glück der Absichtslosigkeit

Meist versuchen wir zielgerichtet und effektiv zu handeln. Dabei kann es ein großes Glück sein, die Absichten loszulassen und zu schauen, was sich dann zeigt.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

„Ich ging im Walde so vor mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn…“ – wer anderes als Johann Wolfgang von Goethe hätte die innere Haltung der Absichtslosigkeit poetischer in wenige Worte gefasst? Bekanntlich findet der dichtende Spaziergänger ein wunderschönes Blümlein, gräbt es aus, pflanzt es im Garten wieder ein und freut sich fortan an seinem Glück.

Auch dürfen sich seitdem Generationen von Schülerinnen und Schülern den Kopf darüber zerbrechen, ob dem Herrn Goethe dieses Glück auch begegnet wäre, wenn er das Ziel gehabt hätte, es zu finden.

In der heutigen Zeit ist Raum für Absichtslosigkeit leider rar geworden. Auch und gerade im Umfeld von Schule und Erziehung geht es oft darum, Ziele zu erreichen und Ergebnisse vorzuweisen. Unsere Leistungsgesellschaft zwingt uns ihren Takt auf, der wenig Zeit für absichtsloses Tun, absichtsloses Schauen, für „einfach Sein“ lässt, ohne etwas an sich selbst oder andere verbessern zu wollen.

Unter diesem Druck vergessen wir schnell, dass Absichtslosigkeit eine heilsame, transformierende Kraft ist. Sie lässt uns zur Besinnung kommen. Im Buddhismus wird Absichtslosigkeit sogar als eines der Tore zur Befreiung von allen Leiden bezeichnet.

„Was begegnet mir jetzt gerade?“

Dabei geht es allerdings nicht darum, passiv zu werden und ohne innere Ausrichtung zu sein. Vielmehr wenden wir uns der Absichtslosigkeit bewusst zu, wir erforschen und kultivieren diese innere Haltung, in der wir zugleich präsent und offen sind.

Um beispielsweise absichtslos durch den Wald zu gehen, müssen wir uns durchaus auf den Weg machen. Wir gehen allerdings nicht, um Bäume zu bestimmen, unsere Fitness zu verbessern oder zu entspannen. Wir gehen nicht, um dafür Lob oder Fleißsternchen zu ergattern. Wir gehen in der Haltung der Achtsamkeit, offen und zugleich präsent für alles, was uns begegnet, neugierig und interessiert.

„Was begegnet mir jetzt?“ ist die immer wiederkehrende Frage, von der wir uns von Moment zu Moment leiten lassen können.

Kindern mehr Zeit lassen

Was aber bedeutet „Absichtslosigkeit“ im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen? Sicher nicht, Kinder in einen grenzenlosen Raum laufen zu lassen. Es wäre allerdings viel getan, wenn wir der Erfahrung von absichtslosem Tun und Sein mehr Zeit einräumen und Kindern mehr davon gestatten könnten. Dafür müssten allerdings wir Erwachsene den Wert der Absichtslosigkeit erkennen, sie erforschen und vor allem: sie uns zugestehen.

Kleine Kinder müssen Absichtslosigkeit jedenfalls nicht erlernen. Auf eine Weise sind sie sogar Spezialisten für absichtsloses Lernen und Forschen, absichtsloses Schauen, absichtslose Kreativität, absichtsloses Tanzen und Singen, absichtsloses Mitgefühl. Und dabei kommen sie oft auf geniale Ideen, sie kommen zur inneren Freude, ins freie Spiel. Absichtslosigkeit ist die Quelle für Phantasie und Kreativität – und auch für eigenständiges Denken!

Wie oft aber werden Kinder in ihrer Absichtslosigkeit beschämt und verurteilt? Wie oft reagieren Erwachsene mit tiefem Unverständnis auf ein Kind, das „nur in die Luft guckt“, kein messbares Ergebnis produziert oder etwas tut, das Erwachsenen in ihrer geistigen und seelischen Enge unverständlich ist.

Wie oft lenken wir das absichtslose Spiel der Kinder in Bahnen von Wettbewerb um Sieg und Niederlage? Wie oft zwingen Erwachsene die Absichtslosigkeit der Kinder in ihnen bekannte, ausgetretene Pfade, um nur ja nicht in den eigenen Überzeugungen erschüttert zu werden!

Aus beschämten und verurteilten Kindern aber werden Erwachsene, die von sich sagen: „Ich kann nicht malen“. Mütter und Väter, die nicht mehr wagen, ihrem Kind ein Lied vorzusingen, weil sie „nicht singen können“. Junge Menschen, die sich schämen, zu tanzen und sich frei zu bewegen. Jugendliche, denen Neugier, Freude und Lebendigkeit abhandengekommen sind.

Wo die Absichtslosigkeit verloren geht, geht auch die Fantasie verloren. Digitalen Scheinwelten, digitaler Manipulation sind dann Tor und Tür geöffnet. Und nicht nur das. Es ist möglich, dass uns dadurch der Zugang zum Menschsein verloren geht.

Loslassen, sich öffnen und etwas Neues erfahren

Zurück also zu Momenten der Absichtslosigkeit. Zu dem Moment, in dem wir einem Kind begegnen und einmal kein Ziel mit ihm verfolgen. Einfach da sind für dieses Kind, offen für das, was es uns zeigt, oder auch dafür, dass es uns gerade nichts zeigt. Offen und präsent, um etwas Neues zu erfahren. Etwas, das sich zuvor gar nicht zeigen konnte, weil der Raum zu eng war.

Vielleicht auch etwas, das uns fremd ist, sogar am eigenen Kind. Das gibt es ja auch.
Dem Drang widerstehen, auf jeden offenen Topf einen Deckel zu setzen, jede Frage mit einer Antwort zu ersticken, jedem Unbehagen mit Argumenten oder Urteilen auszuweichen.

Auch zurück zu jenen Momenten, in denen Absichtslosigkeit Empfindungen von tiefer Freude und Verbundenheit weckt. Momente, in denen wir von Augenblick zu Augenblick dem Drang widerstehen, aus Absichtslosigkeit ein neues Programm zu machen. In denen wir hören, schauen, meditieren oder beten, durch den Wald streifen oder die Wolken beobachten.

In denen uns unerwartet etwas ganz Neues begegnet. Vielleicht eine Blume, ein Blatt, ein Vogel. Momente, in denen Fragen auch einmal unbeantwortet bleiben dürfen, weil wir sie noch ein wenig im Herzen bewegen wollen. In denen dann, vielleicht, aus unserem Inneren, eine Antwort aufsteigt, ein Weg, oder ein Glück.

Julia Grösch

Julia Grösch ist Achtsamkeitslehrerin und Heilberaterin für Erwachsene und Kinder. Mehr Artikel und Infos finden Sie auf ihrer Seite..

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Bäumeklettern: Suschaa / photocase.de
  • Julia Grösch: privat