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Wenn im Seminar die Zeit stehen bleibt

An der Alice Salomon Hochschule in Berlin fließt Achtsamkeit seit 2013 in vielen Bereichen ganz natürlich ein. Eine Vision der Dozentin Hanna Beneker ist, dass sich die Kultur des Miteinanders verändert.

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Barbara Leitner sprach mit Hanna Beneker, Gastdozentin an der ASH, Ansprechpartnerin für das Netzwerk „Achtsame Hochschule“, sowie Meryem Yildiz, Masterstudentin im Studiengang Kritische Diversity und Community Studies.

Frage: Frau Beneker, Frau Yildiz, wie und wann kam das Thema Achtsamkeit an die ASH?

Hanna Beneker: Bereits bevor ich an diese Hochschule kam, gab es Kolleg:innen, die Achtsamkeit praktiziert und an die ASH brachten. Einige davon initiierten 2013 das bundesweite „Netzwerktreffen Achtsamkeit an Hochschulen“. Das fand seitdem einmal jährlich – bis auf eine Ausnahme in Hamburg – an der ASH statt.

Meryem Yildiz: Als ich 2018 zu studieren begann, suchte ich Kurse zu Achtsamkeit und war überrascht, den Workshop „Awareness through the Body“ zu finden. Der wird immer noch in der Reihe „alice gesund“ für Studierende und Mitarbeiter:innen angeboten.

Was heißt heute Achtsamkeit an der Hochschule für die ASH?

Beneker: Wir haben kein Türschild: „Dies ist eine achtsame Hochschule“. Vielmehr bemühen wir uns, Achtsamkeit in vielen Zusammenhängen zu leben. Es gibt Hochschulen, die personell dafür ausgestattet sind, um entsprechende Initiativen zu fördern. Das haben wir nicht. Wir wollen, dass Achtsamkeit im Hochschulalltag von den Menschen aufgenommen und gelebt werden kann, die es gern möchten. Tatsächlich gingen die ersten Initiativen von verschiedenen Hochschulangehörigen aus. Sie boten eine Meditationsgruppe an und fragten nach Weiterbildungen.

Die ersten Initiativen gingen von Hochschulangehörigen aus.

Yildiz: Ich erlebe, dass es von innen heraus wächst, insbesondere durch das Interesse der Studierenden. In Projektmodulen, dem Herzstück des Studiums, fragen sie nach den Potenzialen von Achtsamkeit für ihr Fach und holen sich dann Lehrende dazu. Ich nahm an zwei dieser Projektmodule teil, einmal „Soziale Arbeit zwischen Achtsamkeit und gesellschaftlicher Entfremdung“ und zum anderen „Rekonstruktive Soziale Arbeit und Achtsamkeit“.

Beneker: Deshalb ist für mich die ASH als Ort so bedeutsam. Hier gibt es sehr viel Offenheit und Achtsamkeit ist willkommen. Ich kann sie auch dort methodisch einführen und leben, wo es gar nicht in der Ankündigung steht. Das ist nicht selbstverständlich angesichts der Entwicklung an Hochschulen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Beneker: Ich fange z.B. meine Seminare mit mehreren Minuten Stille, als „Zeit für mich“ an. Ich erwarte nicht, dass alle diese Achtsamkeitsübung mitmachen. Ich biete sie an. Wer etwas anderes braucht, z.B. Bewegung, macht das in dieser Zeit. Da kommt schnell die Rückmeldung: ‚Tut das gut. Erst einmal anzukommen.‘

Auch die Dyadenarbeit zur Reflexion der eigenen Gedanken wird sehr gut angenommen, wenn sie vorsichtig initiiert wird. Hierbei spricht und hört man einander paarweise im Wechsel zu.

Es entstehen Räume, in denen das Tempo rausgenommen ist.

Wie wirken solche Elemente auf die Studierenden?

Beneker: Sie können sich anders erleben. Es entstehen Räume, in denen das Tempo rausgenommen ist, es nicht um ein zu erlangendes Ergebnis geht. Ich führe Methoden ein und achte auf meine eigene Gewahrsamkeit. Ich rattere nicht Inhalte herunter, sondern ermögliche den Studierenden, sich selbst und ihre eigenen Gedanken wahrzunehmen und wertzuschätzen.

An den Hochschulen sitzen wir auf den Stühlen als hätten wir unsere Lebensgeschichte und unseren Körper nicht dabei. Achtsamkeit kann für Momente den Zugang zum eigenen Körper und zu uns selbst ermöglichen.

Das ist für die Hochschule und die Arbeitskontexte außerhalb wichtig: Wie kann ich bei mir bleiben? Ein Student sagte mal, in den Seminaren bliebe die Zeit stehen, weil er da zur Ruhe komme und sich entwickeln könne. Gerade für die SAGE-Fächer (Soziale Arbeit, Gesundheit sowie Erziehung und Bildung in der Kindheit) finde ich das hochrelevant.

Auf die Absolvent:innen wartet ein Alltag, in dem sie unglaublich gefordert sind. Wenn ihnen die Hochschule die Möglichkeit bietet, das eigene Erleben und was sie brauchen, um gut da sein zu können, wahrzunehmen, nehmen sie das auch als Kompetenz mit.

Gibt es Forschung zur Wirksamkeit Ihrer Arbeit?

Yildiz: An der ASH nicht, an anderen Hochschulen schon. Viele Studierende wählen Achtsamkeitsthemen für ihre Bachelorarbeiten, auch ich. Wie andere Studierende arbeite ich parallel im sozialen Bereich. Da sind Mitgefühl, Resilienz und Achtsamkeit gefordert, um nicht auszubrennen. Anderen Studierenden geht es dabei vermutlich wie mir: Ich erfahre den Nutzen der Praxis am eigenen Leibe.

Dabei bin ich kritisch gegenüber Forschungen, die nach messbarem Nutzen schauen. Das ist ein kapitalistischer Gedanke mit der Idee: Wie kann ich besser funktionieren und leistungsfähiger sein. Damit bliebe das System, das zum Burnout führt, aufrecht erhalten. Das ist nicht mein Anliegen.

Durch Achtsamkeit verändert sich die Kultur des Miteinanders.

Wohin soll es für Sie mit Achtsamkeit an der ASH gehen? Haben Sie eine Vision?

Beneker: Ich glaube, durch die Achtsamkeit verändert sich die Kultur des Miteinanders. Das spielt auch während der Pandemie eine Rolle: dass wir Formen fanden, auch vor dem Computer würdevoll und in einem tiefen Respekt voreinander zu lernen.

Diese Sensibilisierung für die Kraft aus dem Inneren wird unser Bemühen um eine Kultur der Achtsamkeit sicher einen großen Schub nach vorn bringen. Es geht darum, mehr Mitgefühl und Freundlichkeit im Miteinander, sowohl an der Hochschule und als auch in allen Feldern, in denen die Studierenden später tätig sind, zu leben.

Yildiz: Meine Vision ist es, Achtsamkeit auch in Veränderungsprozessen für eine sozial gerechtere Hochschule zu nutzen. Dass die Strukturen barriere- und diskriminierungsärmer werden und dass ein Dialog zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen entsteht.

Beneker: Achtsamkeit bietet die Möglichkeit, sich selber zu entwickeln und zu einem anderen respektvollen Miteinander zu kommen. Für mich heißt das, Perspektiven anderer wahrnehmen, zuhören, Raum lassen.

Und auch zu fragen: Wie geht es jenen, die in der Verwaltung arbeiten, wie den Student:innen, die neu an die Hochschule gekommen sind? Das trägt schon eine Widerständigkeit in sich. Es macht mutiger nicht über Menschen und Situationen hinweg zu gehen, sondern Momente des Alltags zu reflektieren.

Auch im Hinblick auf Macht ist es wichtig bei sich zu bleiben, sich aus dieser Position zu öffnen und sich nicht so schnell in den Erwartungen und Anforderungen anderer zu verlieren. Wenn wir das üben, wird sich etwas in der Art des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft verändern.

 

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  • Brille und Buch: Nick Hillier / Unsplash