Wie Achtsamkeit für autistische Menschen funktionieren kann

Die Expertin Annelies Spek erklärt in diesem Buch, wie Achtsamkeit für Menschen mit Autismus hilfreich sein kann und wie Übungen gestaltet sein müssen, um den Bedürfnissen dieser Zielgruppe gerecht zu werden.

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Menschen mit Autismus erleben die Welt auf ihre eigene Art und Weise. Manchen fällt es schwer, Reize zu filtern: Sie nehmen also beispielsweise das Surren des Kühlschranks genauso stark wahr wie die Stimme des Gegenübers. Das kann anstrengend sein und zu Gefühlen wie Niedergeschlagenheit, Angst, Wut oder Frustration führen.

Manche verlieren sich in Gedankenspiralen, weil es ihnen schwerfällt, von einem Thema zum nächsten zu wechseln. Sie denken zum Beispiel über eine Fernsehsendung lange nach, um die Informationen in ihrem Kopf zu sortieren. Das kann sie daran hindern, abends entspannt einzuschlafen. Und manche haben einen weniger guten Kontakt zu ihrem eigenen Körper und merken dadurch nicht so leicht, wenn sie sich überlasten. Außerdem fällt es vielen schwer, sich nicht ablenken zu lassen.

Achtsamkeitsübungen können Menschen mit Autismus helfen, besser mit solchen Schwierigkeiten umzugehen. Das zeigt auch eine Studie mit erwachsenen Autistinnen und Autisten. Annelies Spek bezieht sich in ihrem Buch auf diese Forschung, und sie zeigt auf, wie das genau funktioniert. Dabei baut sie auf den Erfahrungen auf, die sie als Mitarbeiterin eines Autismuszentrums in diesem Bereich sammeln konnte.

Überblick über das Thema

Das Buch beschreibt Achtsamkeitsübungen und gibt Hintergrundinformationen. Auf 200 Seiten gibt es so einen hilfreichen Überblick über das Thema. An seiner Entstehung waren auch Menschen mit Autismus beteiligt. Vielleicht erklärt das, dass die Sprache auf die nicht-autistische Leserin an manche Stellen etwas zu schematisch wirkt, während einige der verwendeten Redewendungen unpassend erscheinen (z.B. Menschen mit Autismus „neigen kaum dazu andere zu betrügen oder auf den Arm zu nehmen“ oder „Durch Meditationsübungen lernt man sozusagen, den Geist zu zähmen“). Einige schwarz-weiße Bilder sollen den Text illustrieren. Zu den beschriebenen Mediationstechniken gibt es auf der Website des Verlags Audiomaterial.

Das Buch erklärt beispielsweise den Unterschied zwischen dem Tun-Modus und dem Sein-Modus – und führt Menschen mit (und ohne) Autismus so vor Augen, warum es ihnen manchmal schwerfällt, abends im Bett mit dem Grübeln aufzuhören. Es stellt unterschiedliche Achtsamkeitsübungen vor, legt dabei den Schwerpunkt auf verschiedenen Formen der Meditation, lässt aber beispielsweise auch Yoga oder Mantras nicht unerwähnt. Teilweise wären Hinweise auf weitere Informationsquellen hier wünschenswert gewesen.

Auch bei der Auswahl der vorgestellten Übungen hat die Autorin immer die besonderen Bedürfnisse der Zielgruppe im Blick. Beim Bodyscan beispielsweise können Menschen mit Autismus immer wieder daran arbeiten, ihre Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit auf ein Körperteil zu richten – und dann auf das nächste zu verschieben. Diese und auch Übungen wie die Geräuschmeditation kann ihnen auch helfen, wenn sie sich aufgrund ihrer Reizempfindlichkeit schnell überlastet fühlen.

Nicht nur für Menschen mit Autismus

Eine Besonderheit der Publikation: Sie richtet sich sowohl an die Betroffenen selbst als auch an Menschen, die mit ihnen Achtsamkeitsangebote durchführen möchten. Menschen ohne Autismus, die Achtsamkeitsübungen für die Zielgruppe anbieten möchten, empfiehlt sie beispielsweise, Dinge strukturiert und klar auszudrücken. Während sie für Teilnehmende ohne Autismus eher davon abrät, die Erklärungen der Übungen vor der Praxis lesen zu lassen, hält sie dies bei Teilnehmenden mit Autismus durchaus für sinnvoll – denn vielen von ihnen hilft es, wenn sie ihre Erfahrungen in einen theoretischen Rahmen einordnen können.

Für viele Menschen sind Bücher also vielleicht nicht das beste Medium, um sich dem Thema Achtsamkeit zu nähern. Bei vielen Menschen mit Autismus kann das aber offenbar anders sein. Ihnen und den Menschen, die sie dabei unterstützen wollen, sei diese Publikation ans Herz gelegt.

Der Autorin gelingt es, die Grundlagen der Achtsamkeit so zu erklären, dass Menschen mit Autismus gut folgen können. Dabei schränkt die Autorin ein, dass sich das Buch nur an mindestens durchschnittlich intelligente Leserinnen und Leser richtet – zurecht, da Autismus durchaus häufig mit einer geistigen Behinderung einhergeht. Hinweise darauf, wo diese Menschen sich über für sie geeignete Achtsamkeitsübungen informieren können, wären hier hilfreich gewesen.

Die Autorin empfiehlt den Leserinnen und Lesern etwa, täglich nicht länger als eine Stunde Achtsamkeitstechniken zu üben – und erklärt, dass es manchen Menschen mit Autismus schwerfällt, mit einer Übung aufzuhören. Die Autorin macht deutlich, dass manche Autistinnen und Autisten Schwierigkeiten damit haben, bildhafte Anweisungen zu Achtsamkeitsübungen umzusetzen, weil ihnen dafür schlicht das Vorstellungsvermögen fehlt. Sie erklärt ihnen also beispielsweise, dass der Atem nicht wörtlich zu den Füßen geht, sondern dass wir das Ziel verfolgen, uns dies vorzustellen. Immer wieder stellt sie auch Variationen von Übungen vor, um den individuellen Bedürfnissen der Leserschaft gerecht zu werden.

„Durch Meditation kann ich Geräusche besser vertragen“

Interessant sind auch die Kommentare von Autisten zu bestimmten Übungen – von „Diese Übung bringt mir nichts, denn ich tue alles sehr aufmerksam“ bis hin zu „Dank dieser Meditation kann ich Geräusche besser vertragen, ohne dass sie mir zu lästig werden. Sie betreffen mich nicht mehr so stark.“

Etwas irritierend mag sein, dass die Autorin Autismus als „Störung“ und Achtsamkeit als „Therapieform“ bezeichnet. Darüber hinaus gelingt es ihr aber sehr gut, die Herausforderungen von Menschen mit Autismus für Laien zu erklären, ohne wertend oder von oben herab über diese Gruppe zu schreiben.

Janna Degener-Storr

Annelies Spek: Achtsamkeit für Menschen mit Autismus. Ein Ratgeber für Erwachsene mit ASS und deren Betreuerinnen und Betreuer, Hogrefe AG, 2022

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  • Cover Achtsamkeit für Menschen mit Autismus: Hogrefe AG