Foto Kraniche am Himmel

Wir müssen nicht allezeit happy sein

Kinder beherrschen die Kunst der Freude. Doch irgendwann geht ein Stück davon verloren. Julia Grösch fragt, wie wir innere Freude wiederbeleben können und hat Leitfragen dafür entwickelt.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

In ihren ersten Lebensjahren sind Kinder, das ist zumindest meine Erfahrung, Spezialisten für innere Freude. Es ist, als würde in ihrem Inneren eine Quelle sprudeln, die sie dazu bringt, sich freudig zu bewegen, freudig zu forschen, freudig zu experimentieren und ganz nebenbei freudig all das zu lernen, was sie gerade interessiert und begeistert. Kleine Kinder sind auf eine Weise hochbegabt darin, dieser inneren Freude zu folgen – und damit vielen Erwachsenen meilenweit voraus.

Wenn die Freude schwindet

Oft lässt sich beobachten, dass bei Kindern diese Freude verschwindet, wenn aus ihnen Schülerinnen und Schüler werden. Was geschieht nur mit ihnen auf dem Weg, dass das freudige Forschen und Lernen verloren geht?

Wie kann es sein, dass aus begeisterten, experimentierfreudigen und neugierigen Kindern, gelangweilte und gestresste Schülerinnen und Schüler werden, die nur unter dem Druck der Noten dazu zu bewegen sind, sich Schulstoff anzueignen?

Und wie kann es sein, dass in diesem Schulsystem aus vielen Pädagog:innen, die hochmotiviert in ihren Beruf starten und verbunden sind mit dem Wunsch, die kommende Generation gut auf das Leben vorzubereiten, erschöpfte, gestresste Menschen am Rande ihrer Kräfte werden?

Die Antworten auf diese Fragen mögen vielfältig sein. Sie sind, wie die Fragen selbst, abhängig von persönlichen Erfahrungen, die jede und jeder von uns mit Lernen, Spielen, Forschen und schulischem Lernen gemacht hat. Und davon, wie wir diese Erfahrungen bewerten.

Aus unseren Erfahrungen entstehen Urteile und Überzeugungen, aus ihnen entstehen wiederum Handlungen, Reaktionen, Worte. Dies alles geschieht bei jedem einzelnen Schüler, bei jeder einzelnen Lehrer:in und jedem einzelnen Elternteil und wirkt sich auf das hochkomplexe System „Schule“ aus.

Zudem sind Schulen keine Inseln. Lehrende und Lernende machen außerhalb der Schule Erfahrungen und tragen sie Tag für Tag in die Schule hinein. Wie viele schmerzliche, beängstigende, entmutigende Erfahrungen sammeln sich da alleine in einem einzigen Klassenzimmer?

Und wie viele Kinder leben unter Bedingungen, die wirklicher Freude – und damit ist mehr gemeint als die oberflächlichen Befriedigung, alles zu bekommen, was man sich wünscht – in keiner Weise dienen?

Zur Freude zurückfinden

Und wir Erwachsene? Kennen wir denn die Wege, um uns in schwierigen Situationen wirklich selbst beizustehen, zu ermutigen und wieder zur Freude zurückzufinden, wenn sie verloren gegangen ist? Es geht hier bei weitem nicht darum, allezeit „happy“ zu sein.

Wir alle erleben Schwierigkeiten und Zeiten, in denen wir nicht „happy“ sind. Und doch geht es um die Frage, ob es nicht hilfreich sein könnte, wenn Lehrende und Lernende, also wir alle, einen Weg kennenlernen, innere Freude zu beleben und an diese Quelle der Freude in uns zurückzukehren.

Und ob es nicht möglich ist, allen in der Schule zu vermitteln: „Auch wenn die innere Freude mal verloren geht, kenne ich Wege, um sie neu zu finden.“ Und um sie zu beleben müssen wir nichts kaufen, wir müssen nicht gewinnen und nicht besser sein, ja, es braucht nicht einmal gute Noten…

Die Praxis der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls kann – wir ahnen es schon – die Leitschnur zur inneren Freude sein. Sie hilft uns dabei, Momente der Freudlosigkeit zur Kenntnis zu nehmen und zu betrachten, ohne uns selbst oder andere zu beschuldigen oder von uns zu verlangen, die Lösung des Problems zu kennen.

Wir erkennen an: „Das ist ein freudloser Moment.“ Oder: „In diesem Moment empfinde ich keine Freude“. Oder: „Dieses Kind oder dieser Jugendliche hat im Augenblick keine Freude.“ Im nächsten Schritt können wir uns mit Selbstmitgefühl begegnen, uns selbst wie einen guten Freund oder eine gute Freundin tröstend und verständnisvoll beistehen.

Dies ist nicht selbstverständlich, weil wir in unserer westlichen Kultur dazu neigen, uns die Schuld zu geben, uns selbst zu kritisieren und auf diese Weise der Freudlosigkeit weitere Nahrung zu geben.

Die Suche nach Schuldigen führt nicht zur inneren Freude. Nur die achtsame und mitfühlende Weise, in der wir in einer freudlosen Situation mit uns umgehen, kann in diesem Moment ein klein wenig Entspannung, Öffnung und Freude in den Moment bringen.

Eine stabile, innere Haltung wachsen lassen

Aus vielen kleinen Momenten der Achtsamkeit wächst mit der Zeit eine stabilere innere Haltung, die es uns beispielsweise auch ermöglicht, Ursachen der Freudlosigkeit in Schulen zu erkennen, zu benennen und uns für Veränderungen einzusetzen.

Wenn wir uns immer wieder darin üben, uns mit freundlicher Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen Augenblick zuzuwenden, stärkt das auch unsere Fähigkeit, besser zu spüren, wo unsere Grenzen liegen und was wir uns zumuten können, damit die innere Freude weniger oft verloren geht.

Der Achtsamkeitslehrer und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh sagt zwar: „Happy Teachers will change the World“ – allerdings dürfen wir uns auch immer wieder bewusst machen, dass wir die Welt dafür nicht alleine auf unsere Schultern laden müssen.

Vielmehr ist es dieser Augenblick, diese Situation mit diesem Schüler, dieses Gespräch, diese Begegnung, diese Geste, die zur Freude und zum Wandel beitragen. Und dieser Beitrag ist nicht zu unterschätzen.

Für innere Freude gibt es keinen Lehrplan und kein Curriculum. Wir gehen als Pädagog:innen einen Weg, den wir vielleicht selbst noch nicht gut kennen. Und das ist auch gut so, denn nur so können wir wirklich offen sein wenn wir mit der einfachen Frage beginnen: „Was hat mich heute schon gefreut?“

Mit so einer Frage nehmen wir einen Leitfaden auf, dem wir folgen können: interessiert, nicht wissend, ausgerichtet, aber ohne etwas erreichen zu müssen. Es geht nicht darum, ein Ziel zu erreichen. Vielmehr besteht die Möglichkeit, Schülerinnen, Schüler und uns selbst zu einer Erforschung einzuladen:

Leitfragen zur Entwicklung innerer Freude

Was hat Dich heute schon gefreut?

Woran bemerkst Du denn eigentlich, dass da Freude ist? Wie fühlt sich Freude im Körper an und was will Dein Körper dann machen?

Woran bemerken andere, dass Du Dich freust?

Wie helfen Dir Deine Füße, Deine Hände, Deine Ohren, Dein Mund Dich zu freuen?

Wenn Du nur still sitzt und die Augen schließt, gibt es dann etwas, das Dich freut?

Kannst Du der Freude helfen, sich auszubreiten?

Welche Gedanken machen Dir Freude?

Welche Handlungen machen Dir Freude?

Was freut Dich an dem Schüler / der Schülerin der/die Dir jetzt gegenüber sitzt?

Freut Dich etwas an einem Baum? An einem Stein, am Wasser, einem Stock?

Worüber kann sich ein Mensch freuen, der blind ist, einer der nicht gehen kann oder einer, der weiß, dass er sterben wird?

Welche Handlungsimpulse gehen von Freude aus?

Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der Menschen aus Freude arbeiten?

Freudlosigkeit bei Kindern begleiten

Es wird, wenn wir in einer Klasse über Freude sprechen, Kinder und Jugendliche geben, die an diesem Tag noch keine Freude erlebt haben, vielleicht auch nicht in den Tagen davor. Für alles, was da kommen mag, brauchen Pädagog:innen eine stabile eigene Achtsamkeitspraxis, um offen, interessiert und anteilnehmend reagieren zu können, ohne zu urteilen.

Jeder Satz, jede Geschichte die dann erzählt wird, ist eine Möglichkeit, auch schmerzliche Erfahrungen zu wandeln und der inneren Freude neue Nahrung zu geben.

Können wir also mit der Frage nach Freude in Schulen Forschergruppen gründen, und auf diese Weise das System verändern? Sicher scheint mir: Wir können der Freude im Schulsystem nur helfen, wenn wir sie in uns selbst kultivieren und wachsen lassen.

Marshall Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation GfK, hat einmal gesagt: „Alles, was getan werden soll, ist es auch wert, unvollkommen getan zu werden.“ Es wäre ein Anfang.

Julia Grösch

Julia Grösch ist Achtsamkeitslehrerin und Heilberaterin für Erwachsene und Kinder. Mehr Artikel und Infos finden Sie auf ihrer Seite..

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  • Kraniche: Zettberlin / Photocase.de
  • Julia Grösch: privat