Foto Illustration Wut im Klassenraum

Wut im Klassenraum

Ann-Marie Backmann ist Lehrerin an einer Gesamtschule. Sie hat den Anspruch, Schüler:innen mit Empathie zu begegnen. Hier schildert sie eine schwierige Schulstunde und wie aus einem Konflikt ein Neuanfang wird.

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Seit 60 Minuten versuche ich immer wieder, mir Gehör zu verschaffen. Für einige Minuten klappt das, dann kommt wieder Unruhe auf. Vier Wochen kennen wir uns jetzt, meine neuen Mathe-Kids und ich. Hier habe ich schon viele Varianten erprobt, um ein produktives Miteinander herzustellen. Bisher noch ohne spürbare Fortschritte.

Ich bin angesäuert, denn heute will hier so gar nichts klappen. Mir wird bewusst, dass ich den Anspruch an mich habe, unser Miteinander müsste mittlerweile besser sein. ‚Diese Kinder und ich, das funktioniert einfach nicht!‘, denke ich.

Plötzlich springt ein Schüler, Ben, von seinem Stuhl auf und tritt ihn wutentbrannt um. Ich gehe zu ihm und spreche ihn an, er reagiert nicht. Stattdessen geht er zum nächsten Stuhl und kickt ihn um, zur Tafel und knallt sie zu.

Er reagiert immer noch nicht auf mich, ich kann förmlich sehen, wie er alles rauslässt. Ich denke das Szenario weiter und fürchte, er hört nicht auf. Stattdessen werde ich ihn stoppen müssen. Ihn festhalten? Nein, wer weiß, wie er reagiert. Ich spüre richtig, wie ich mit dem Rücken zur Wand stehe und trete die Flucht nach vorne an.

Ein Konflikt ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang

So baue ich mich vor ihm auf und brülle ihn an: „Du setzt dich jetzt sofort auf deinen Platz! Ich glaube, es hackt!“ Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich mit solcher Energie gebrüllt hätte. Es scheint zu ihm durchzudringen, denn tatsächlich setzt er sich hin. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich bin erschrocken, voller Adrenalin und kurz vor den Tränen.

Auf dem Flur höre ich unsere Sozialpädagogin. Ich muss mich erstmal sammeln – sie übernimmt für den Moment die Klasse für mich. So kann ich kurz raus. Ich zittere und kann es nicht fassen: ‚Scheiße! Sowas darf mir nicht passieren! Ich weiß es doch viel besser!‘ Und ich denke auch: ‚Ist Ben total bescheuert?‘

Wenn ich jetzt nie wieder einen Fuß in diese Klasse setzen wollte, bekäme ich bestimmt viel Zustimmung. Aber für mich hat sich nichts geändert. Ich will einen Weg finden, der für uns alle funktioniert, jetzt erst recht. Mir fällt ein Zitat ein: „Ein Konflikt ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang.“ Es liegt an mir und den Kindern, ob es ein Anfang wird.

Die Stunde ist fast um, als ich wieder hereinkomme. Der Tag vergeht und ich kann immer mehr Puzzleteile zusammen setzen. Wie konnte es soweit kommen? Mich in Selbstmitleid oder Schuldgefühlen zu suhlen (schlechteste Lehrerin der Welt, furchtbare Kinder, überhaupt dieses System…), bringt mich nicht weiter.

Selbstreflexion im Alltag

Mit mir als Person hatte Bens Wutausbruch nichts zu tun, da hätte auch Kolleg:in XY stehen können. Ich gehe die Stunde immer wieder durch und stelle fest, dass ich in meiner Lehrerin-Rolle an der Dynamik durchaus beteiligt war. Jedenfalls habe ich vorher nicht deeskalierend gewirkt.

Als Lehrerin bin ich für die Qualität der Beziehung zu meinen Schüler:innen verantwortlich, also auch für diese Situation. Genauso wie im Übrigen Ben für sein Verhalten zu 100 Prozent verantwortlich ist. ‚Verantwortlich‘ heißt, wie ich auf eine Situation antworte. Dabei kann ich mich als Lehrerin stets fragen: Setze ich meine Macht für oder gegen andere ein? Wenn ich sie für andere einsetze: Was tue ich also?

Für mich ist diese Selbstreflexion mittlerweile normal, ist sie das für alle Lehrer:innen? Wollen wir wirklich unseren Anteil an einem solchen Konflikt sehen? Üblich wäre doch, die Sanktions-Maschinerie in Gang zu setzen, um Schüler wie Ben klein zu halten – und fertig.

Ich will diese Sache mit ihm klären. Und obwohl meine Reaktion funktioniert hat, um ihn zu stoppen, könnte man von verbaler Gewalt sprechen. Auch ich war wütend. Wenn ich mein Brüllen nur als Abwehrreaktion rechtfertigen würde, würde ich nach dem Motto leben „Aber er hat doch angefangen!“. Das will ich nicht bei Schüler:innen und das will ich selbst auch nicht.

Außerdem hilft mir der Anspruch nicht weiter, dass ich oder die Kinder nicht wütend sein dürfen. Denn das habe ich in der Unterrichtsstunde über mich gedacht und mich damit selbst daran gehindert, genauer hin zu schauen.

Offen sein im Gespräch

Ich führe am nächsten Tag mit Ben ein Gespräch unter vier Augen. Dabei ist mir wichtig, sowohl meine Sicht zu erklären als auch ihm zuzuhören; ein Gespräch auf Augenhöhe. Wenn er auf der Anklagebank säße, würde sich unsere Beziehung nur verschlechtern. Und wie soll er Empathie lernen, wenn ich nicht empathisch mit ihm bin?

Ich frage ihn also erst einmal, wie es ihm heute geht. Er ist zerknirscht und erschrocken, wie sehr seine Wut ihn im Griff hatte. Dann erkläre ich ihm, wie es mir in der Situation ging. Ich erzähle von meiner Angst und meiner eigenen Wut. Ohne Vorwurf an ihn. Da hört er plötzlich ganz aufmerksam zu und richtet sich auf seinem Stuhl auf. Er spürt, dass er sich nicht schämen muss für seine Gefühle. Daraufhin erzählt er, wieso er wütend war.

Ich spreche offen ein paar Situationen an, in denen er in mein Blickfeld kam und ich nicht auf ihn eingegangen bin. Im Gegenteil, ich habe ihn abgewimmelt, weil parallel immer andere Dinge passierten. Und schließlich sage ich: „Es tut mir leid, dass ich dich so angeschrien habe.“ Selbst wenn er Grenzen überschritten hat, habe auch ich in dem Moment, als ich ihn stoppte, seine Grenze überschritten. Ben tut es ebenfalls leid – und das sagt er nicht als Floskel. Am Ende des Gesprächs können wir sogar wieder lachen.

Umgang mit der eigenen Wut

Für mich heißt es nun noch besser wahrzunehmen, wann mein Stresslevel im Unterricht steigt und zeitnah entgegenzuwirken. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl werden dabei weiterhin meine Begleiter und Unterstützer sein.

Mit Ben vereinbaren wir fürs Erste einen neuen Sitzplatz, sodass er Abstand zu den Mitschüler:innen gewinnt, von denen er sich provoziert fühlt. Heißt das jetzt, dass Ben nie wieder austickt? Nein, sicher nicht. Seine Aufgabe ist, auf sich selbst zu achten und zu erkennen, wann er wie reagiert.

Außerdem einigen wir uns auf ein Zeichen, das er mir geben kann, sobald er innerlich unruhig wird. Ich binde ihn vermehrt bei verantwortungsvollen Aufgaben für den Klassenverband ein, damit er mehr Selbstwirksamkeit erfährt. Wenn gerade jedoch nichts hilft, darf er zum Verschnaufen an die frische Luft.

Ich bin froh, dass aus unserem Konflikt ein neuer Anfang werden konnte: Wir zwei haben jetzt eine Geschichte, die uns verbindet.

Ann-Marie Backmann ist Lehrerin, Referentin, Bloggerin, Schulcoach – und Mutter von drei Kindern. Sie unterstützt Lehrer*innen und Eltern als Coach dabei, mehr Wertschätzung und Vertrauen in ihre Beziehungen zu bringen. Weitere Artikel und Angebote für Lehrercoaching finden Sie auf ihrer Seite Beziehungsweise Schule.

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  • Illustration Wut im Klassenraum: Lena Hesse
  • Ann-Marie Backmann: privat