12 Fragen an Berenice Boxler

Berenice Boxler ist inspiriert von Menschen wie Sophie Scholl, die für ihre Werte eintrat. Ihr Lieblingszitat hat auch mit Authentizität zu tun: „Wer bin ich, wenn mir niemand zusieht?“

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Wann und warum haben Sie angefangen Achtsamkeit und Meditation zu üben?

Mein erstes Kind kam im Sommer 2012 zur Welt, und ich war einerseits überwältigt und zutiefst dankbar und glücklich, auf der anderen Seite auch schnell überfordert von den körperlichen Herausforderungen, dem Anspruch, alles richtig machen zu wollen und dem plötzlichen Loslassen-Müssens des mir bekannten selbstbestimmten Lebens.

Auf die Geburt hatte ich mich vorbereitet, auf das danach war ich nicht vorbereitet – und ich geriet in eine Spirale aus Selbstkritik, Schuldgefühle, Freudlosigkeit und Erledigungsmodus. Auf der Suche nach Hilfe stieß ich auf die Achtsamkeitspraxis (das Programm von Mark Williams) und auf das Buch „Mit Kindern wachsen“ von Jon und Myla Kabat-Zinn.

Mit Hilfe der App Headspace begann ich dann mit der regelmäßigen Meditation. Meine Hinwendung zur Praxis geschah also aus der Not heraus und aus dem Wunsch, meinen Kindern eine gute Mutter zu sein und die Freude wiederzufinden.

Wie würden Sie Achtsamkeit einem Kind oder Jugendlichen erklären?

Du kennst das Wetter da draußen: Regen, Sonne, Schnee, Nebel, etc. Je nachdem, was für Wetter draußen ist, ziehst du dich anders an oder machst andere Dinge. In dir drin gibt es auch eine Art Wetter, z.B. bist du mal wütend, mal froh, mal aufgeregt, mal genervt, mal nervös. Achtsam sein bedeutet, dass du weißt, wie das Wetter in dir gerade aussieht und was du brauchst, um damit umzugehen, damit du trotzdem das machen kannst, was du machen möchtest oder musst.

In welchen Situationen fällt es Ihnen schwer achtsam zu sein?

Wenn ich mich körperlich nicht gut fühle, weil etwas schmerzt oder weil ich zu wenig Schlaf bekommen habe, dann fällt es mir schwer, achtsam zu sein. Dann bin ich viel reaktiver als sonst. Außerdem fällt es mir schwer, wenn mich ein Gefühl von Ohnmacht oder Hilflosigkeit überfällt – dann gerate ich schnell in alte Muster und verliere den Kontakt zu mir und zu meinem Körper.

Welches Zitat inspiriert Sie immer wieder?

„Wer bin ich, wenn mir niemand zusieht?“– ein Zitat aus der Zeitschrift moment by moment. Diese Frage, die an den Kern, an das tiefe Sein erinnert, wenn alle Rollen und Erwartungen wegfallen: das ist meine Erinnerung, immer wieder innezuhalten.

Wer ist in Bezug auf Empathie und Mitgefühl Ihr persönliches Vorbild?

Ich hatte in meiner Schulzeit einen Lehrer, der uns Schüler*innen auf einer menschlichen und respektvollen Ebene begegnete und in verschiedenen Situationen eine innere Haltung zum Ausdruck brachte, die mir noch heute ganz tief ins Herz geht. Er stach hervor durch seine Präsenz, seine ernst gemeinte Freundlichkeit und seine Empathie. Ganz und gar Mensch, und erst an zweiter Stelle Lehrer. Er war einer der ersten Personen in meinem Leben, deren bedingungslose Menschlichkeit ich erleben durfte.

Kann man mit Achtsamkeit die Welt retten?

Das weiß ich nicht. Ich bin aber überzeugt, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn mehr Menschen – besonders solche in Schlüsselpositionen bzw. Personen, die mit vielen anderen Menschen zu tun haben – Achtsamkeit, Herzensqualitäten und Offenheit praktizieren würden. Menschlichkeit, Ethik, Mitgefühl, die Fähigkeit, mit Schwierigkeiten zu sein und nicht direkt den mentalen Bewertungen Glauben zu schenken, all das würde sicherlich helfen, mehr Licht in die Welt zu bringen.

Welches Buch hat Sie zuletzt besonders inspiriert?

„Life is in the Transitions“ von Bruce Feiler. Es ist ein sehr inspirierendes Buch über die Kunst, mit Veränderungen umzugehen. Er spricht von über 30 größeren oder kleineren Veränderungen (Identität, Beziehungen, Körper, Arbeitsleben, Umzüge, etc.) während eines Lebens, und etwa jede zehnte wird zu einem „Lebenbeben“ (lifequake) – wir erleben also etwa 3-5 Lebenbeben im Laufe unseres Lebens. Diese können sich bis zu fünf Jahre hinziehen, und diese gilt es zu erkennen, zu akzeptieren, zu markieren, zu verarbeiten und zu integrieren. Gerade gehe ich selbst durch eine größere Veränderung und hole mir dort hilfreiche Anregungen.

Gibt es etwas, das Sie an der Achtsamkeitspraxis manchmal nervt?

An der Achtsamkeitspraxis selbst nervt mich nichts. Wo ich jedoch immer wieder in die Bewertung komme, das ist, wenn die Achtsamkeitspraxis als etwas dargestellt wird, dass ganz einfach ist, ein Allheilmittel, sie also sehr verklärt wird. „Du hast Stress? Sei achtsam!“

Das Leben ist nicht einfach, und auch die Achtsamkeitspraxis macht es nicht rosarot – das wird aber immer wieder suggeriert. Ich fände es hilfreich, weniger über die Achtsamkeit zu sprechen oder sie verkaufen zu wollen, als sie vielmehr auf das eigene Leben wirklich wirken zu lassen und auf das eigene Handeln und die eigenen Begegnungen anzuwenden.

Daraus entsteht ganz von selbst etwas, es muss nichts angepriesen werden. Und daraus entsteht dann auch die Klarheit und der Mut, Strukturen zu ändern, die geändert werden müssen – um dann gar nicht erst auf die Idee zu kommen, die aus den falschen Strukturen entstehenden Schwierigkeiten mit einer Achtsamkeitspraxis „erträglicher“ zu machen.

Haben Sie eine spezielle „Achtsamkeitsroutine“?

Morgens, noch im Bett, meditiere ich und dann richte ich mich auf den Tag aus: Welche Qualitäten möchte ich heute besonders stärken? Zum Beispiel Verankerung, Offenheit, Stärke, Verbundenheit oder Freundlichkeit mit mir selbst. Dann mache ich etwa 10 Minuten Yoga. Abends im Bett erinnere ich mich bewusst an die Dinge, Begegnungen, Erlebnisse, die mich im Laufe des Tages gefreut, innerlich genährt oder gestärkt haben.

Das „Ich bin“ (eine Praxis von Stefan Machka) begleitet mich zudem den ganzen Tag, immer wieder. Stopp, einatmen, ausatmen und „ich bin“ denken und spüren. Nicht „ich bin gestresst“ oder „ich bin Mutter“, sondern „Ich bin.“ Mich erinnern: zu sein genügt. Hier zu sein genügt.

Sollte Achtsamkeit Einzug erhalten in Bildungsinstitutionen und wenn ja, warum und wie?

Ich finde, Achtsamkeit sollte in den Bildungsinstitutionen einen festen Platz erhalten, sowohl für Schüler*innen als auch für das Lehr- und Erzieherpersonal. Wie das Schulfach „Glück“ in anderen Ländern, könnte es ein Schulfach geben – wie auch immer man das nennen möchte – das sich um die Selbsterkenntnis dreht. Wie funktioniert das Gehirn, was ist der Geist, was sind Herzensqualitäten und wie kann ich sie stärken? Was sind Emotionen, wie spricht mein Körper mit mir? Themen wie Selbstregulation, achtsame Kommunikation, Selbstfürsorge, Mitgefühl, kommen im Schulalltag zu kurz.

Die Geistes- und Herzensbildung ist für mich ein ganz wichtiger Baustein bei dem Anspruch, „fürs Leben zu lernen“. Keiner weiß, wie die Welt im Jahr 2050 aussehen wird und welche technischen oder beruflichen Kompetenzen notwendig sein werden, aber der Umgang mit Emotionen, mit anderen Lebewesen, mit der Umwelt, mit dem eigenen Körper, und auch mit den Medien und Technologien, das wird auf jeden Fall immer noch relevant sein.

Wir brauchen Menschen, die verstehen und sich dafür interessieren, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Welche bereits verstorbene Person hätten Sie gerne getroffen?

Seit meiner Jugendzeit fasziniert mich Sophie Scholl. Ich hätte sie gerne getroffen, um zu fragen, was ihr Halt gegeben hat in einer Zeit, in der es so gefährlich war, für seine Werte von Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzustehen. Woher kam der Mut? Wie fühlte sie sich? Welche Ängste und Zweifel hatte sie? Was trug sie von innen heraus?

Wenn Ihr Geist ein Garten wäre, wie sähe es dort aus?

In meinem Garten wäre ein ziemliches Durcheinander, natürlich gewachsen, bunte Blumen, Schmetterlinge, Bienen fliegen von Blüte zu Blüte, hier und da ist eine sehr ordentliche und gepflegte Ecke zu sehen, aber auch große Bereiche voller Wildwuchs und Unkraut. Bunt, wuselig, lebendig.

Berenice Boxler ist Achtsamkeitslehrerin und Autorin in Luxemburg. Auf ihrer Webseite veröffentlicht sie regelmäßig Artikel zum Thema Achtsamkeit. Dort gibt es auch zahlreiche Meditationen (auch speziell für Eltern) zum freien Download. Für das Arbor Online Center hat sie einen Selbstlern-Kurs erstellt: „Ein innerer Kompass – Achtsamkeit für Eltern“.  Mehr Informationen hier.

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