Wann und warum haben Sie angefangen Achtsamkeit und Meditation zu üben?
Meditation lernte ich über die christliche Kontemplation kennen. Es wird hier als wortloses und stilles Gebet gepflegt und schöpft aus der mystischen Tradition des Mittelalters und ähnelt dem Zen. Mich faszinierten unterschiedliche Zugänge zur Stille und die Kraft von Bewusstheit und Präsenz. Achtsamkeitspraxis habe ich über Lienhard Valentins und Katharina Martins Arbeit mit Eltern kennengelernt; jenseits des Spirituellen und Religiösen zeigt sich Achtsamkeit als Möglichkeit, in die Tiefe zu gehen und das Leben wiederzugewinnen, was gerade im Alltag mit Kindern eine große Ressource ist und den Fokus von den Kindern als Objekt unserer Erziehung weg zu uns Erwachsenen selbst lenkt.
Wie würden Sie Achtsamkeit einem Kind/Jugendlichen erklären?
Alle wollen heute unsere Aufmerksamkeit haben. Handy, Medien und Bildschirme überall sagen zu uns: „Schau dir das an! Lies das hier! Das ist wichtig!“ Achtsamkeit hilft uns, wieder besser zu entscheiden, was wir wirklich sehen, hören und wissen wollen. Auch in unserem Kopf gibt es viele Stimmen und oft sind wir in Gedanken verloren. Achtsamkeit bringt uns wieder zurück in unseren Körper, uns selbst gut zu spüren, wie es uns gerade geht, was uns stresst, was uns gut tut. Achtsamkeit hilft uns, im Hier und Jetzt anzukommen, anstatt ständig an Vergangenes oder an Pläne und Probleme in der Zukunft zu denken.
In welchen Situationen fällt es Ihnen schwer achtsam zu sein?
Bei starken Gefühlen wie Wut, Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit.
Welches Zitat inspiriert sie immer wieder?
Kleiner Fisch schwimmt im Meer und frägt einen erfahrenen, älteren Fisch, wo denn der Ozean sei, er würde ihn schon so lange suchen. Antwortet der: „Du schwimmst doch mitten drin!“ Enttäuscht schwimmt der kleine Fisch davon: „Was, aber das ist doch nur Wasser…!?“
Kleiner Fisch hör auf das Leben oder Gott zu suchen, halte einfach still, schaue, du kannst es nicht verpassen.
Wer ist in Bezug auf Empathie und Mitgefühl Ihr persönliches Vorbild?
Meine Frau. In mehr als 30 Jahren mit Kindern hat sie sich ein offenes Herz bewahrt, das alle Wesen in ihrer Verletzlichkeit und ursprünglichen Güte sieht (neben den Kindern auch die Tiere – und auch viele Erwachsene ;))
Kann man mit Achtsamkeit die Welt retten?
Achtsamkeit öffnet im besten Fall unsere Sinne und unser Herz. Nur wenn wir wach sind und lebendig, wenn wir unser Herz öffnen, wird sich unser Leben von innen her wandeln können. Von innen her können wir anders in der Welt wirken, befreit von manchen Zwängen und künstlichen Bedürfnissen, die uns dazu gebracht haben, den Planeten zu plündern. Nur in der Weise befreit werden wir in Einklang mit der Natur leben. Nicht die „Methode Achtsamkeit“ wird die Welt retten, aber die Menschheit wird nicht ohne Achtsamkeit im Sinne von Bewusstheit die „Welt“ retten können.
Welches Buch hat Sie zuletzt besonders inspiriert?
Navid Kermani: „Jeder soll von dort, wo er ist, einen Schritt näher treten.“ Der Deutsch-Iraner erklärt seiner Tochter den Islam und bringt dabei zum Ausdruck, welche Schätze die Religionen, ihre heiligen Schriften und die großen Fragen des Lebens für uns bereit halten. Seine Leidenschaft für Sprache und vor allem die des Koran sind so authentisch, ansteckend und ebnet den Weg für eine gegenseitige Hochachtung und einen inter-religiösen wie inter-spirituellen Dialog.
Gibt es etwas, das Sie an der Achtsamkeitspraxis manchmal nervt?
Eine Kursteilnehmerin sagte einmal gleich in der Vorstellrunde: „Achtsamkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit – ich kann das Wort nicht mehr hören!“ Das bringt zum Ausdruck, dass zu vieles vermarktet, zerredet und verzweckt wird. Wichtiger denn je ist es vielleicht heute, der Achtsamkeitspraxis die Seele zurückzubringen, die für mich in einer authentischen tiefen Spiritualität zu finden ist – unabhängig davon, ob oder aus welcher religiösen oder spirituellen Tradition sie schöpft. Auch Achtsamkeit ist zutiefst mehr als eine Technik oder Methode.
Haben Sie eine spezielle „Achtsamkeitsroutine“?
Meine tägliche Zeit der Meditation, die zugleich Gebet ist, ist mein Trainingslager und mein Refugium. Auch mein regelmäßiges Joggen ist für mich Achtsamkeitspraxis – ohne Knöpfe im Ohr, in der Natur, mit meinen Barfußschuhen.
Sollte Achtsamkeit Einzug erhalten in Bildungsinstitutionen und wenn ja wie/warum?
In Bildungsinstitutionen Räume zu schaffen, wo jenseits von Lehrplänen Leben und Lebendigkeit erfahrbar wird und authentische Bedürfnisse von Kindern und anderen Menschen zu ihrem Recht kommen, ist wunderbar und sehr zu begrüßen. Aber es geht um viele authentische Bedürfnisse, wo neben Achtsamkeit auch Bewegung, Kreativität und eine ehrliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlich wichtigen Themen dazugehören. Ohne ehrliche Übung seitens der Erwachsenen selbst kann Achtsamkeit mit Kindern keine Frucht bringen. Wie in allen anderen Dingen auch werden Kinder/Menschen überhaupt von authentischen, ehrlichen und leidenschaftlichen Menschen lernen.
Welche bereits verstorbene Person hätten Sie gerne getroffen?
Jesus von Nazareth
Wenn Ihr Geist ein Garten wäre, wie sähe es dort aus?
Oje… ich glaube da gibt es Dickicht, Dschungel und auch Neuphyten wie Goldruten, also invasive Pflanzen, die zwar nett aussehen, aber zarte, alte Gewächse verdrängen und die Artenvielfalt bedrohen…. Deswegen ist mein Gang in die Stille unerlässlich, um zu sehen, was im Geist alles wächst, und um dem Unscheinbaren und zarten Gewächsen Licht und Raum zu geben. Aber es gibt auch schöne Blumen, Vögel, Lieder, mächtige Bäume, und stille Gewässer, aus denen Lieder aufsteigen, Projekte, Aufsätze und ganze Bücher. Und es gibt heilige Nischen, in denen alles für Augenblicke unberührt, still und heil ist.
Im März 2024 erscheint im Verlag Tyrolia Steve Heitzers neues Buch zu Achtsamkeit und Spiritualität:“Hellwach am Leben. Inspirationen zur Achtsamkeit“.
Einen anderen sehr persönlicher Beitrag von Steve Heitzer lesen Sie auf der Seite von Netzwerk Ethik heute.
Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.
Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.