In deutschen Kindergärten gibt es Entwicklungsbedarf in vielen Bereichen. Wir brauchen mehr Personal, mehr Platz und mehr Kompetenz, um Kinder angemessen begleiten zu können. Auf der anderen Seiten gibt es Dinge, die wir überwinden müssen: In vielen Kitas herrscht ein autoritärer Umgangston.
Kinder werden zu oft angewiesen, das eine zu tun und das andere zu unterlassen. Auch gibt es straffe Zeitpläne und eine Menge fixer Vorstellungen, was Kinder in ihrem Kitaalltag tun sollten. Diese Herangehensweise, die durch Stress noch gefördert wird, ist schon lange nicht mehr zeitgemäß.
Wenn wir wollen, dass ein Kind sich wohlfühlt und sich zu dem Menschen entwickeln kann, der in ihm angelegt ist, braucht es Raum für Entfaltung. Und es braucht eine Begegnung auf Augenhöhe mit den Erwachsenen. Respekt und die Haltung der Gleichwürdigkeit bilden die Basis für einen authentischen zwischenmenschlichen Kontakt, egal ob es sich dabei um ein Krippenkind, ein Kindergartenkind oder ein Vorschulkind handelt.
Respekt vor dem sich entwickelnden Leben
Der bekannte Familientherapeut Jesper Juul prägte den Begriff der Gleichwürdigkeit. Gemeint ist nicht, dass alle gleich oder gerecht behandelt werden. Vielmehr bedeutet es, dass man sein Gegenüber, sei es ein Kind oder ein Erwachsener, ernst und wichtig nimmt.
Es geht darum, die Würde des anderen zu respektieren und die Tatsache anzuerkennen, dass jeder eigene Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen hat. Jeder Mensch bringt ein eigenes Talent und Potential mit, das er in seinem Tempo und auf seine Weise entfalten möchte.
Bereits die Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) und die Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984) wiesen darauf hin. Die Grundlage ihrer Arbeit galt dem Respekt vor dem sich entwickelnden Leben.
Emmi Pikler empfiehlt, schon mit Säuglingen normal zu sprechen. Es sei ein Ausdruck von Respekt gegenüber dem anderen Lebewesen, wenn man beispielsweise auf dem Wickeltisch jede geplante Handlung ankündigt, anstatt sie einfach durchzuführen, als sei das Kind nicht an dem Prozess beteiligt.
Maria Montessoris bekanntestes Motto ist „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Sie plädiert dafür, für Kinder eine Umgebung zu schaffen, in der sie sich selbständig bewegen und möglichst viel ausprobieren können, ohne ständig auf die Anleitung oder Hilfe eines Erwachsenen angewiesen zu sein.
Welche Rolle spielt die Achtsamkeit dabei
Ein erster, einfacher Schritt zu einer gleichwürdigen Haltung den Kindern gegenüber ist es, sich selbst und das Kind achtsam wahrzunehmen. Wir werden dadurch aufmerksamer für die „Arbeit“, die die Kinder bereits in jedem Moment leisten: Ob sie malen, miteinander agieren oder sich die Hände waschen – sie sind immer in einem Prozess des Entdeckens und Lernens.
Die Erwachsenen brauchen nur zu beobachten und zu begleiten, was ohnehin geschieht. Eine hilfreiche Reflexion kann hier sein: Wie begleite ich das Kind in diesen Momenten so, damit es ganz bei sich sein kann? Wenn ein Kind auf ein Gerüst klettern möchte, das vielleicht noch etwas hoch oder neu für das Kind ist, kann ich mich zunächst fragen: Will ich eingreifen? Warum will ich eingreifen?
Als Erwachsene sollten wir unterscheiden lernen, ob wir unterstützend oder übergriffig handeln. Hebe ich das Kind auf das Gerüst, beraube ich es der Erfahrung des Kletterns; und es kann auch nicht einschätzen, wie hoch es tatsächlich ist. Stattdessen können wir dem Kind einfach zur Seite stehen und es im Notfall auffangen.
Das mag belanglos erscheinen, doch für das Kind macht so etwas einen entscheidenden Unterschied: Es erfährt sich selbst in seinem Können oder Nicht-Können voll und ganz. So unterstützen wir Kinder darin, sich selbst gut kennenzulernen und schließlich ihr Potential in ihrem Tempo zu entfalten.
Als Erwachsener brauche ich die Achtsamkeit, um mich selbst gut zu beobachten und dem Kind sichere Erfahrungsräume zu ermöglichen. Eine achtsame Haltung kann in jedem Geschehen mit den Kindern im Kindergartenalltag ummittelbar zum Tragen kommen.
Sie ist nichts, was vom Kind geleistet oder eingeübt werden muss. An diese Haltung, die Aspekte wie Vertrauen, Geduld und Mitgefühl beinhaltet, müssen wir uns als Erwachsene allerdings oft erst wieder erinnern.
Achtsames Händewaschen
Achtsam zu sein oder Prozesse bewusst zu begleiten, sollte kein zusätzliches Aufgabenfeld im pädagogischen Alltag sein, sondern einfach in die Arbeit mit einfließen. Oft kann man beobachten, wie Erzieher:innen die Kinder beim Händewaschen zur Eile antreiben, da sie danach vielleicht ein pädagogisches Angebot geplant haben.
Tatsächlich dürfen die Erwachsenen sich hier ermuntert fühlen, das Händewaschen an sich als Projekt zu sehen. Es steckt so viel Lernpotential auf verschiedenen Ebenen darin: Wie funktioniert der Wasserhahn, was passiert mit der Seife, das Zählen der Finger, das Erweitern des Wortschatzes. Diese Prozesse zu begleiten unterstützt die Kinder darin, sich selbst wahrzunehmen, achtsam zu sein und sich als selbstwirksam zu erfahren. Damit erleben sie schon ganz früh die Achtsamkeit mit sich selbst.
Die Kinder sind immer in dem Augenblick, in dem sie gerade sind. Sie verlieren Zeit und manchmal auch Raum: Mit Hingabe die Hände zu waschen, jemanden zu haben, der aufmerksam dabei ist und einen begleitet, alle Zeit der Welt zu haben. Man kann dann oft beobachten, was für eine Haltung im Körper der Kinder zum Vorschein kommt: Es ist wie ein inneres Wachsen, ein tiefes Durchatmen, wenn sie fertig sind mit dem Projekt Händewaschen.
Achtsamkeit ist ein Geschenk, das wir Erwachsenen den Kindern machen können.
Aufgeschrieben von Sarina Hassine
Corinna Simpson ist Montessori-Pädagogin und Familientherapeuthin. Sie arbeitet als Beraterin für Pädagog:innen und bietet Seminare, Fortbildungen und Vorträge an. Corinna Simpson lernte unter anderem über viele Jahre bei Jesper Juul und ist als Coach bei familylab.de tätig. Für AVE arbeitet sie im Vermittlungsteam vom Projekt „Empathie macht Schule“.