Beine

Achtsamkeit darf uns nähren

„Achtsamkeit sollte nicht noch ein Punkt auf der vollen To-Do-Liste werden“, sagt die Familientherapeutin und Achtsamkeitslehrerin Anne Hackenberger und verrät uns ihre Lieblingsübung für eine Selfcare-Pause zwischendurch.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Aufgeschrieben von Mike Kauschke

Als Eltern stehen wir ständig vor vielen Herausforderungen und müssen lernen, mit neuen, unbekannten Situationen umzugehen. Wir erleben oft Stress und müssen uns ständig um andere kümmern. Deshalb ist mein Hauptfokus in der Arbeit mit Eltern die Selbstfürsorge: Wie kann ich gut für mich sorgen, während ich versuche, gut für meine Kinder zu sorgen?

Eltern haben nicht die Zeit, zwei Stunden in die Sauna zu gehen oder eine halbe Stunde Bodyscan zu machen, sondern sie brauchen Übungen, die sich in den Alltag integrieren lassen. Für mich waren das beispielsweise die Momente, wo ich auf meine kleinen Kinder warten musste. Ich hätte ungeduldig werden können, weil sie sich nicht in den Kindersitz im Auto setzen oder vom Spielplatz nicht nach Hause kommen wollen. Für mich waren das immer die Momente, in denen ich zu mir kommen konnte.

Die beste Übung für Eltern

Die beste Übung für solche Momente ist der sogenannte „Drei-Schritte-Atemraum“*. Ich spüre für ein paar Atemzüge den Körper, nehme die Gedanken und Gefühle wahr, atme durch, um dann wieder in die Situation zurückzugehen.

Das ist eine basale Übung, die ich überall machen kann, z. B. wenn ich auf den Zug warte oder an der Kasse stehe. Immer mal wieder kann ich den eigenen Körper spüren, die Füße auf dem Boden wahrnehmen und mich mit mir selbst verbinden.

So etwas ist für Eltern praktikabel, denn sie können sich nicht jeden Morgen eine Stunde hinsetzen und meditieren. Achtsamkeit sollte nicht noch ein Punkt auf der vollen To-Do-Liste werden. Achtsamkeit ist nichts, was wir auch noch erfüllen müssen, um gute Eltern zu sein, sondern Achtsamkeit darf uns dienen, uns nähren.

Dadurch entwickeln wir gleichzeitig die Qualitäten, die wir auch als Werte in unserer Familie kultivieren möchten: Geduld, Freundlichkeit, Vertrauen, Akzeptanz, den anderen so sein lassen, wie er oder sie ist.

Mit dem sein, was ist

Akzeptanz ist auch wichtig, wenn etwas ganz anders ist, als wir es uns vorgestellt haben oder gerne hätten. In einem solchen Moment kann ich meine eigenen Kapazitäten ausdehnen, um mit dem zu sein, was ist. Das können wir im Leben mit Kindern immer wieder üben. Besonders auch in den Situationen, in denen es richtig schwierig ist, in denen wir ausrasten wollen.

Da ist das Innehalten wichtig, um diese kleine Lücke zwischen Reiz und Reaktion zu finden und nicht impulsiv zu reagieren. Wenn ich meinen Atem spüre und die Situation wahrnehme, kann ich aus dem automatischen Reagieren, dem sogenannten Autopiloten rauskommen und eine achtsame und angemessene Antwort finden.

Und wenn ich mich als Mutter vielleicht nicht so verhalten habe, wie ich es gerne gewollt hätte, oder es gerade einfach schwer ist, dann ist Selbstmitgefühl die Übung. Elternsein macht nicht nur Spaß. Vielleicht hatte ich eine schlaflose Nacht, habe einen beunruhigenden Brief bekommen oder mein Kind hat Husten. Dann kann ich mir selbst eine gute Freundin sein und mit einer freundlichen Stimme zu mir sprechen. Mitgefühl mit sich selbst ist eine wichtige Säule in der Achtsamkeitspraxis. Denn Elternsein macht uns auch sehr verletzlich.

Beziehungsarbeit ist das Kernthema

Unsere Liebsten, unsere Partner und Partnerinnen und unsere Kinder bringen uns an alle wunden Punkte. Wenn das geschieht, kann uns Achtsamkeit helfen, die Klarheit zu bewahren. Ich weiß, mein Kind oder mein Partner ist nicht schuld daran, dass diese wunden Punkte spürbar werden, er oder sie war nur der Auslöser dafür. Es gibt etwas in mir, das Aufmerksamkeit möchte. Es sind vielleicht eigene Kindheitserfahrungen, die integriert werden wollen.

Dafür ist Achtsamkeit das Fundament, weil ich ansonsten meinen Schmerz schnell auf den anderen projiziere. Mit Achtsamkeit kann ich meinen Körper spüren, kann meine Gedanken und Gefühle wahrnehmen. Es sind nur Gedanken und ich muss nicht alles glauben, was ich denke. Manchmal glaube ich furchtbare Sachen über meinen Partner, merke aber bald, es ist nur ein Gedanke.

Auch wenn wir wütend reagieren, können wir zurück in die Liebe kommen. Unsere Kinder triggern uns. Wir können bemerken, was gerade passiert ist. Wir können uns fragen, was wir brauchen, um gut in Beziehung zu sein. Die erste Beziehung ist die Beziehung zu mir selbst. Wenn ich sie pflege, kultiviere und nähre, dann fällt es mir auch leichter, in Beziehung mit anderen zu sein, seien es meine Kinder, mein Partner oder meine Freunde oder wer auch immer.

Für mich ist Elternsein und In-Beziehung-Sein ein echter Entwicklungs-Katalysator.

Mit Achtsamkeit Integrität und Authentizität bewahren

Mir ist es sehr wichtig, dass die Kinder ihre eigene Integrität bewahren dürfen, und dass die Eltern sich als Menschen zeigen und nicht nur eine Rolle spielen. Eltern dürfen sich als Mensch, als ganze Persönlichkeit transparent und sichtbar machen und sich einbringen. Das unterstütze ich in der Familientherapie.

Um sich wirklich zeigen zu können, ist es hilfreich, wenn ich weiß, was in mir los ist. Dann muss ich nicht sagen: „Räum dein Zimmer auf!“, sondern ich kann sagen: „Ich merke, mich stört es, dass dein Zimmer so unordentlich ist, können wir gemeinsam eine Lösung dafür finden?“ Das ist ein ganz anderer Ansatz. Ich übernehme Verantwortung für mich und meine Gefühle. Und dafür ist Achtsamkeit wichtig.

Unsere Kinder sind nur für eine sehr begrenzte Zeit bei uns. Es fühlt sich manchmal an, als ob es ewig wäre, wenn das Baby nachts um 3.00 Uhr schreit. Aber es ist nur ein Wimpernschlag in unserem Leben, deshalb ist es so wichtig, diese Zeit bewusst zu erleben. Dazu gehört auch, diese Zeit zu genießen und zu feiern, dass unsere Kinder da sind, dass sie so toll sind, auch wenn sie uns manchmal auf die Nerven gehen. Denn unsere Kinder sind das größte Geschenk des Lebens an uns.

Übungsanleitung Drei Schritte-Atemraum

1. Gegenwärtigkeit

Sitze entspannt oder stehe gerade an dem Platz, wo du bist, aufrecht und entspannt und halte inne. Schließe die Augen, wenn möglich. Bringe die Aufmerksamkeit zum gegenwärtigen Moment: Welche körperlichen Empfindungen sind gerade spürbar? Gibt es Gedanken, die du bewusst wahrnehmen kannst? Oder vielleicht eine Gedankenqualität, wie unruhige Gedanken, aufgewühlte Gedanken, schwarz-weiß Gedanken, vorwurfsvolle Gedanken?

Wie ist deine gefühlsmäßige Stimmung? Erlaube dir, einfach mit der Erfahrung zu sein, wie sie gerade ist. Du musst nichts tun oder verändern, auch wenn das, was du erlebst ungewollt oder unangenehm ist.

2. Sammeln

Bringe nun die Aufmerksamkeit zum Atem, zu jedem Ein-und Ausatmen. Spüre die Körperempfindung, die dabei entsteht. Folge dem Atem und spüre das Heben und Senken der Bauchdecke. Der Atem kann als Anker dienen, um dich in die Gegenwart zurückzuholen, wenn die Gedanken wandern. Verweilefür einige Momente so gut es geht beim Atem.

3. Ausdehnen

Öffnedas Feld der Aufmerksamkeit und dehne es auf den Körper als Ganzes aus. Nimm die Körperhaltung wahr und den Gesichtsausdruck. Bleibe freundlich und ohne etwas zu verändern für einige Augenblicke bei dieser Wahrnehmung. Bringe nun etwas von dieser Erfahrung des Innehaltens und dieser gegenwärtigen Bewusstheit in die nächsten Momente deines Alltags. Beende die Übung und öffne die Augen, wenn du so weit bist.

 

Anne Hackenberger

Anne Hackenberger ist Paar- und Familientherapeutin, Achtsamkeitslehrerin und Beziehungsforscherin. Ihr Anliegen ist die achtsame Begleitung von (werdenden) Eltern auf ihrer Reise zu einer erfüllten Beziehung zu sich selbst und den Kindern und einem achtsamen Familienleben. Anne Hackenberger ist Mutter von zwei Söhnen. Mehr auf ihrer Website.

Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Mehr über ihn und seine Arbeit finden Sie auf seiner Seite.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Auch mal die Beine hochlegen: k_t / photocase.de
  • Mike Kauschke: privat