Achtsamkeit und Demokratiebildung: politisches Mindset in Schulen fördern

Kinder und Jugendliche an Fragen rund um Demokratie, Mitbestimmung und Politik heranzuführen, ist Aufgabe von Schule. Politikwissenschaftlerin Dr. Linda Sauer setzt sich für Demokratiebildung ein. Achtsamkeit ist für sie ein wichtiger Baustein.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das Gespräch führte Marika Muster.

Was bedeutet für Sie Achtsamkeit und was nicht?

Dr. Linda Sauer: Achtsamkeit wird in unserer westlichen Kultur erstmal als Wohlfühl-Programm verstanden. Wie komme ich mit den ganzen Krisen, die mich umgeben, und mit den vielen Herausforderungen zurecht? Wie kann ich Maßnahmen für mich selbst entwickeln, um damit besser umgehen zu können?

Wenn Achtsamkeit auf dieser individuellen Ebene bleibt, dann greift sie zu kurz. Sodass ich irgendwann vielleicht an der Welt verzweifle, weil ich denke: „Ich bin wahnsinnig achtsam mit mir. Aber warum macht es mir keiner nach?“ Daher ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass ich als Mensch in einer ständigen Wechselbeziehung zu anderen Menschen stehe, aber auch zur Natur und zur Politik. Es geht mir um Achtsamkeit im Sinne einer ganzheitlichen Seinsweise.

Sie unterrichten Ethik an einer Schule. Wie bringen Sie das Thema Achtsamkeit da ein?

Sauer: Es geht vor allem darum, wie wir uns unsere Denkmuster, unsere Vorurteile, unser Mindset, das wir mit uns rumschleppen, bewusster machen können, damit wir achtsamer mit den eigenen Gedanken umgehen können. Außerdem ist es wichtig, dass wir uns für andere öffnen, mal zuhören, uns kennenlernen, statt andere vorschnell in Schubladen einzuordnen und zu beurteilen.

Rollenspiel in der Klasse: „Der Vermittler“ schafft eine Atmosphäre, in der sich jeder gehört fühlt.

Ich habe mit Politik und Ethik schon mal Fächer, in die sich das relativ einfach integrieren lässt. Wir haben beispielsweise in Ethik eine ganze Einheit zum Thema Frieden. Wir sprechen über Menschenrechte und darüber, was Konflikte sind. Außerdem machen wir viele Übungen zum Thema gewaltfreie Kommunikation.

Letzte Stunde habe ich mit den Jugendlichen eine Übung gemacht, in der zwei Parteien sich gegenübersitzen, die nicht von sich aus zu einer Einigung kommen. Einer spielt dann den Vermittler. Dafür haben wir vorher Kriterien besprochen.

Erst spricht der eine, dann der andere, dann fasst der Vermittler zusammen und schafft so schon eine Atmosphäre, in der sich jeder gehört fühlt und die ganz starken Aggressionen etwas nachlassen. Es kommt nicht immer zu einer Einigung, weil eine richtige Mediation sehr lange dauern kann. Aber mir geht es darum, dass die Schüler*innen einen Konflikt aus verschiedenen Perspektiven erleben.

Auch ein Rollenspiel zum Thema Mobbing haben wir gemacht. Da hat einer den Mobbenden gespielt und der andere den Betroffenen. Danach haben wir die Rollen getauscht. Wir stellen uns normalerweise eher hinter das sogenannte Opfer. Aber, wenn wir uns in die Täterseite versetzen, ist das auch nicht schön. Man wird moralisch abgelehnt. Wir fragen uns, „was könnte den Täter veranlassen, so zu handeln?“

So bekommt man eine emotionale Dimension in den Unterricht. Man erlebt selbst, wie sich sowas anfühlt. Ich habe den Eindruck, dass dann mehr hängen bleibt.

Für mich beginnt Demokratiebildung in unserem unmittelbaren Umfeld, im Privaten, im Freundeskreis.

Inwiefern hat Demokratielernen mit Selbstwirksamkeitserfahrungen zu tun?

Sauer: Zum einen gibt es Selbstwirksamkeit im Sinne von „Was kann ich als Einzelne und Einzelner zu einem demokratischen Miteinander beitragen?“ Zum anderen geht es darum, wie wir in Strukturen eingebettet sind, die mir nur teilweise einen Handlungsspielraum geben.

Die Rahmenbedingungen können wir als Einzelperson nicht von heute auf morgen verändern. Aber bei der Demokratiebildung geht es nicht nur um große Politik. Wir können uns fragen, wie wir mit unserem unmittelbaren Umfeld, im Privaten, im Freundeskreis umgehen. Lasse ich die Meinungen anderer gelten? Ich habe viele Bekannte, die ein Loblied auf die Demokratie singen, aber in ihrem kleinen Kosmos fast schon diktatorisch unterwegs sind. Wenn man mal nicht ihren Willen erfüllt, dann ziehen sie sich beleidigt zurück.

Für mich beginnt Demokratiebildung auf dieser unteren Ebene, damit man auch für das Große ein Verständnis gewinnt. Möglicherweise sehe ich dann auch Nachteile einer Demokratie. Dann erkenne ich, dass ich manche Meinungen nicht toll finde, die ich aber nicht verbieten kann.

Für demokratische Entscheidungen in der Gruppe ist das Thema Kommunikation im Vorfeld wichtig.

Demokratie hat viel damit zu tun, wie man Entscheidungen trifft. Wie kann Achtsamkeit dabei helfen?

Sauer: Auf der grundlegendsten Ebene, weil man mit Achtsamkeit bewusster Entscheidungen treffen kann. Ich muss mir erstmal über mich selbst bewusst sein. „Was sind eigentlich meine Werte, meine Ziele im Leben. Was sind meine Bedürfnisse?“ Selbst bei kleineren Entscheidungen, die jeden Tag warten. Wenn ich mich selbst kenne oder wenn ich mir bewusst bin, wo mein Weg hinführt, kann ich mich auch im Kleineren leichter oder zumindest schneller entscheiden.

Und das ist gerade heutzutage in einer Welt, in der so viele Entscheidungsmöglichkeiten existieren, wahnsinnig überfordernd. Es ist wichtig zu lernen, auch mal innezuhalten. Oft setzt man sich selbst unnötig unter Druck und denkt, man muss sofort eine Entscheidung treffen. Unser Mindset sagt uns dann „Um Himmels willen, was ist, wenn das die falsche Entscheidung ist?“ Dann entsteht schon im Vorfeld einer Entscheidung Stress, sodass es fast unmöglich ist, eine bewusste und gute Entscheidung zu fällen. Deswegen ist das Thema für mich selbst unheimlich wichtig.

Im Hinblick auf demokratische Entscheidungen, die ja nicht nur einen Menschen betreffen, sondern viele, ist das Thema Kommunikation im Vorfeld wichtig. Dass man sich zusammensetzt, zum Beispiel in der Familie, und jeder erstmal aus seiner Perspektive erzählt, was ihm wichtig ist. Alleine dadurch wird einem schon viel mehr bewusst.

Wie kann achtsame politische Bildung gelingen?

Sauer: Da ist noch viel Luft nach oben, um das mehr in unsere Kultur zu integrieren. Das ist nichts, was die Bundesregierung verhängen könnte. „Ab nächsten Monat haben wir das in unserem Programm und dann sind wir alle achtsam“, sondern es ist ein langer Prozess, der sich entwickeln muss.

Und der ist umso fruchtbarer, je mehr Leute aus unterschiedlichen Bereichen daran mitwirken. Ideen haben sich in der Geschichte immer schon so durchgesetzt: Am Anfang hatte einer die Idee oder ein paar wenige, die für Spinner gehalten wurden. Und irgendwann haben es immer mehr Menschen gemacht.

Wenn wir Demokratiefähigkeit lernen wollen, brauchen wir ein achtsames Miteinander.

Wenn wir Demokratiefähigkeit lernen wollen, brauchen wir ein achtsames Miteinander. In unserer egozentrierten Welt ist es wichtig, immer mal wieder aus der eigenen Perspektive rauszugehen und zu erkennen „Wie sieht das für den anderen aus? Welche Bedürfnisse könnte der andere haben? Welche Erfahrungen hat er gemacht? Wie stellt sich die Welt für ihn dar?

Das ist kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Schritt, um einander wieder näher zu kommen und sich mehr verbunden zu fühlen. Denn oft sind unsere Bedürfnisse gar nicht so grundverschieden. Wir empfinden uns nur als verschieden, als getrennt voneinander.

„Es geht darum, sich seiner selbst auch in Bezug auf andere bewusst zu werden.“

Also geht es darum, den Fokus mehr auf die Gemeinsamkeiten zu richten?

Sauer: Ja, und das kommt mir noch ein bisschen zu kurz in der Achtsamkeit, wie sie im Moment überwiegend praktiziert wird. Es geht darum, sich seiner selbst auch in Bezug auf andere bewusst zu werden. Ich brauche zwar Räume des Rückzugs und Zeit, um meine Batterien wieder aufladen zu können.

Aber ich brauche vor allem Austausch mit anderen Menschen, vielleicht auch mit Tieren und der Natur, also der Welt, die mich umgibt. Dabei werde ich mir auch über mich selbst klarer. Oft fühlt man sich besser, wenn man ein schönes Gespräch hatte oder mit netten Menschen zusammen war. Das ist aus meiner Sicht das beste Wohlfühlprogramm, was man überhaupt nur haben kann.

Auch aus politischer Sicht lässt sich allein nichts erreichen. Ich brauche andere, die mit mir ein Interesse teilen, um es in der Welt zu verwirklichen. Daher bedeutet Achtsamkeit auch, sich mehr miteinander zu verbinden.

Danke für das Gespräch.

 

Dr. Linda Sauer ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Politische Philosophie und promovierte über die politische Urteilskraft im Werk Hannah Arendts. Ihr besonderes Interesse gilt dem Existentialismus sowie modernen Emanzipations- und Partizipationsbewegungen. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte an der FH Dortmund im Bereich „Angewandte Sozialwissenschaften“. Außerdem unterrichtet sie Ethik an einer Schule.

 

Am 29.01.2024 findet folgender AVE-Online-Workshop mit Dr. Linda Sauer statt.

„Die achtsame politische Bildungsarbeit als Schlüssel zur Demokratiefähigkeit“

Hier können Sie sich anmelden.

 

Neue Studie zur schulischen Demokratiebildung

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  • Junge Menschen im Austausch: SeventyFour / istock
  • Linda Sauer: privat