Achtsamkeit zieht Kreise. Als ich diesen Satz 2008 in meinem Buch „Achtsamkeit in der Schule“ formulierte, da versteckte sich eher ein Wunsch hinter der Formulierung. Aber auch eine Gewissheit: Die Haltung der Achtsamkeit umfasst Anwendungswege, die im Bildungsbereich noch wenig beschritten, aber zielführend sind.
Es geht um eine umfassende, kontinuierliche Bewusstseinsschulung, die das wissenschaftlich inzwischen so gut erforschte In- und Miteinander von Körper, Gedanken und Gefühlen auf erfahrungsorientierte Weise praktisch umsetzt.
Inzwischen hat Achtsamkeit Kreise gezogen und es gibt schon viele unterschiedliche Umsetzungswege. Einen sich über mehrere Jahre hindurch ziehenden Prozess möchte ich hier darstellen, auch um Mut zu machen: „Start small!“
Begeisterte Menschen und umsichtige Unterstützer
Was braucht es, um im schulischen Bereich neue Wege zu erproben: Begeisterungsfähige Pädagog*innen und etablierte Schulentwickler, die den Bogen spannen können und wollen zwischen theoretischen Erkenntnissen (z.B. aus dem Bereich der Hirnforschung und Psychologie) und praktischen Vermittlungsmöglichkeiten.
Im Bereich der Staatlichen Lehrkräftefortbildung am Schulamt Frankfurt trafen 2018 Begeisterung und praktisches Knowhow aufeinander: Zusammen mit Roland Louis von der hessischen Lehrkräfteakademie und Lehrer*innen, die schon die Haltung der Achtsamkeit für sich entdeckt hatten, entwickelten wir eine einjährige Ausbildungsreihe, aufbauend auf dem Rahmencurriculum AiSCHU (Achtsamkeit in der Schule).
Ziel war es, Lehrer*innen in ihrer eigenen Achtsamkeit zu stärken und sie zu befähigen, die Praxis an Schüler*innen weiterzugeben und in die Schule zu tragen.
Finanzierung und Organisation
Finanziert wurde das Angebot aus drei Quellen: Ein Teil war die Eigenbeteiligung der Teilernehmer*innen, ein weiterer die Freistellung vom Unterricht, und einen dritten Teil übernahm das AVE Institut.
Organisatorisch wurde das Projekt von Alexandra Merkel (Hessische Lehrkräfteakademie, Schulamt Frankfurt) und Annika Kempe (Generalistin „Schule und Gesundheit“)* begleitet. Die Unterstützung des Projektes auf diesen Ebenen hat den Prozess maßgeblich gestärkt und viele Prozesse erleichtert.
Eine weitere Unterstützung war, dass die Ausbildung wissenschaftlich von Prof. Dr. N. Kohls zusammen mit Jana Kraft von der Hochschule Coburg evaluiert wurde. Die Studienergebnisse wurden beim Springer Verlag veröffentlicht.
Teilnahmevoraussetzungen – etwas Vorwissen ist hilfreich
Noch im gleichen Jahr 2018 wurde die AiSCHU-Fortbildungsreihe mit einem Seminar-Wochenende in einem Tagungshaus im Taunus eröffnet.
Die interessierten Pädagog*innen hatten sich mit einer ausführlichen Bewerbung zur Ausbildung angemeldet. Gewisse Vorerfahrungen (z.B. Yoga, Qigong, Autogenes Training etc., Meditationserfahrung) waren Voraussetzung zur Teilnahme.
Von 40 Lehrer*innen konnten 24 ausgewählt werden. Im Folgejahr 2019 wurden von 35 Bewerber*innen wieder 24 ausgewählt.
Damit diese Ausbildungsreihe nachhaltig sein konnte, war es Voraussetzung, dass mindestens zwei Lehrkräfte einer Schule teilnahmen. Wichtig war dafür natürlich auch, dass die Schulleitungen die Teilnahme befürworteten und den Lehrer*innen eine Freistellung an den Seminar-Tagen gewährten.
Insgesamt umfasste die Ausbildung drei Wochenend-Seminare, für eine Zertifizierung mussten die Teilnehmer*innen mindestens 80% der Seminarstunden anwesend sein und sich zu einer kontinuierlichen Achtsamkeitspraxis zwischen den Seminaren verpflichten. Die Ausbildung wurde mit einer Abschlussarbeit als Voraussetzung für das Zertifikat beendet.
Auftakt: Eine eigene Achtsamkeitspraxis entwickeln
Das erste Wochenende der Ausbildungsreihe war ein Auftakt für beobachtendes Gewahrsein und das Etablieren einer kontinuierlichen Achtsamkeitspraxis: Die persönlichen Stressoren erkennen, Ressourcen wahrnehmen und Kraftquellen wieder sprudeln lassen.
Es begann also mit einem Eintauchen in die Kraft der Innenschau und die Freude an der Begegnung mit Gleichgesinnten. Außerdem ging es darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Achtsamkeitsforschung zu verstehen und die möglichen Umsetzungswege erfahrungsorientiert zu erkunden. „Hausaufgabe“ für die Teilnehmer*innen: Der Schulalltag als Feldforschung.
Die positive Wirkung von Achtsamkeitsinterventionen ist inzwischen sehr gut erforscht und evidenzbasiert abgesichert, was Resilienz und emotionale Selbstregulation angeht. Dies sozusagen am eigenen Leibe zu erfahren, war für die Lehrer*innen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Vermittlung von Achtsamkeit an Schüler*innen.
Nächster Schritt: Achtsamkeit für Schüler*innen
Nach der Selbsterfahrungsphase ging es an die Möglichkeiten der Vermittlung von Achtsamkeit an Schüler*innen. Ein Jahr lang experimentierten die Lehrer*innen damit, die Elemente des Curriculums an die eigenen Erfordernisse je nach Unterrichtsfach und Alter der Schüler*innen anzupassen.
Vor allem ging es auch darum, in der jeweiligen Schule Unterstützer*innen und Interessierte zu finden, die ebenfalls z.B. die Unterrichtsstunde mit dem „Achtsamen Stehen“ begannen oder eine „Stillephase“ vor Klassenarbeiten einführen wollten.
Nachhaltigkeit durch Supervision
Wie oft geschieht es, dass neue Wege wieder versanden, einfach weil sie nicht weiter beschritten werden. Aus diesem Grund gab es nach der ersten einjährigen Ausbildungsrunde in monatlichen Abständen Supervision: Begleitung und Austausch über das, was klappt und über das, was Schwierigkeiten bereitet. Welche Übungen zur Körperwahrnehmung kamen gut an? Wie kann mit Widerstand umgegangen werden?
Durch das Supervisionsangebot und die verschiedenen Schulprojekte hat sich im Laufe von drei Jahren eine „Community“ entwickelt, die sich gegenseitig unterstützt und stärkt. Dies sehe ich als einen der größten Projekt-Erfolge – hier werden Verbundenheit und Nachhaltigkeit gestärkt.
Corona und die digitalen Möglichkeiten
Optimal ist die Vermittlung von Achtsamkeit in Präsenz. Die Corona-Zeit hat mich persönlich aber zum Umdenken gebracht und ich habe das schon bestehende Programm „Achtsame 8 Wochen“ als Online-Format entwickelt. Dieses Programm dient als Einführung in die Achtsamkeit (ähnlich einem MBSR-Kurs oder vergleichbaren Angeboten) und kann individuell oder als Gruppe genutzt werden. Je nach Möglichkeiten und Bedarf kann der Online-Selbstlernkurs mit Präsenzterminen ergänzt werden kann.
Ein Blended Learning-Format also, das dann auch 2020 auf Wunsch des Schulamts Frankfurt im Rahmen von „Schule und Gesundheit“ für eine Gruppe Lehrer*innen umgesetzt werden konnte. Hier haben wir Präsenz- und Online-Unterricht gekoppelt und vier Präsenztreffen in acht Wochen Kurs realisiert.
Ein schöner „Nebeneffekt“: Aus dieser Gruppe haben sich einige begeisterte Lehrer*innen zusammengeschlossen und gemeinsam die Elemente von Aischu für die Erfordernisse für Kinder der 5. Klassen angepasst. Sie sind nun eng miteinander vernetzt und treffen sich regelmäßig per Zoom.
Schulkultur der Achtsamkeit
Die zwei einjährigen Ausbildungen haben 60 Lehrer*innen hervorgebracht, die nun in Hessen das erworbene Wissen in ihre Klassen und ins Kollegium tragen. Auf diese Weise sind seit 2018 an diversen Frankfurter Schulen viele Implementierungsschritte gegangen worden. So zum Beispiel an der Elisabethenschule, der Wöhlerschule, dem Adorno-Gymnasium, der Brandstroem-Schule – um nur einige zu nennen. Achtsamkeit, Verbundenheit und Engagement prägen dort Schritt für Schritt immer mehr die Schulkultur.
Im Juli 2022 gibt es erstmals wieder ein Live-Treffen ehemaliger und neuer Teilnehmer*innen: Zeit für Rückschau, Austausch und Weiterentwicklung.
Achtsamkeit zieht immer weitere Kreise.
Vera Kaltwasser
Weitere Informationen
Schule und Gesundheit – Lehrkräftegesundheit in jedem Bundesland
Was nicht alle Lehrkräfte wissen: „Schule und Gesundheit“ ist eine Initiative für Lehrkräftegesundheit, die nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2012 zur „Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule“ in Hessen aufgebaut wurde und in jedem Bundesland (unter unterschiedlichen Namen) existiert.
Nach dem Beschluss ist es für jedes Bundesland obligatorisch, Angebote zur Lehrkräftegesundheit zu machen – die Achtsamkeit passt hier wunderbar hinein und wird auch in anderen Bundesländern auf diese Weise integriert (z.B. Gute Gesunde Schule in Hamburg oder Gute Gesunde Schule Berlin)
Online Kurs Achtsame 8 Wochen
Der Online-Kurs „Achtsame 8 Wochen“ umfasst Videos, Audios und schriftliches Begleitmaterial, das speziell Pädagog*innen unterstützt, ihren Weg mit der Achtsamkeit zu beginnen oder zu vertiefen. Das Angebot lässt sich zeitlich individuell und unkompliziert nutzen, sei es als Einzelperson oder auch als Gruppe, falls sich mehrere Kolleg*innen zusammenschließen wollen (Rabatt für Gruppen möglich).
„Als Gruppe von 8 oder mehr Pädagog*innen können Sie sich kostenlos durch eine unserer Expert*innen begleiten lassen und bekommen Unterstützung bei der Anwendung und Vertiefung der Inhalte und Übungen des Online-Kurses.“
Hier können Sie den Kurs buchen.
Vera Kaltwasser, Oberstudienrätin, Theaterpädagogin und in der Lehrerfortbildung tätig. 2007 nahm sie ein Sabbatjahr und begann u. a. bei Jon Kabat-Zinn, dem Begründer der Achtsamkeitsbewegung, in den USA ihre Ausbildung zur MBSR-Lehrerin. Weitere Ausbildungen: Qigong und Freiburger Lehrercoaching (Prof. Bauer). Mehr über Vera Kaltwasser und die AiSchu-Lehrerfortbildung auf ihrer Seite.