In einem Kurs für Eltern und Pädagog:innen taucht fast zwingend die Frage auf, wie wir unsere ungeliebten Muster loswerden können und unseren Idealen näher kommen; wie wir nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns selbst besser unter Kontrolle bekommen. Gar nicht, sagen uns Hirnforschung, Achtsamkeitspraxis und spirituelle Traditionen. Jedenfalls nicht direkt. Und doch gibt es Hoffnung.
Wie kann ich in Stress-Situationen mit meinen Kindern gelassen sein, fragen sich Eltern immer wieder.
Wenn du gestresst bist, springt automatisch dein ältestes Gehirn an, dein „Dino“. Der kennt nur Angriff, Flucht oder Totstellen. Deine Vernunft und Empathie sind blockiert. Gelassenheit gibt es bei einem Dino im Alarmmodus nicht, das geht also gar nicht.
Aber dann kann ich ja gar nichts tun?
Nein, nicht tun, aber sein. Aber wie denn? Was denn? Du sagtest gerade, im Dino-Modus kann ich nicht gelassen sein?
Es geht nicht darum, gelassen zu sein, wo du es nicht bist. Du kannst nur wach sein. Wütend und wach. Ohnmächtig und wach. Bloßgestellt und wach. Angegriffen und wach. Gestresst und wach. Wachsein bedeutet, hellwach registrieren, was gerade bei dir passiert.
Aber dann kann ich nur wahrnehmen, dass ich nicht gelassen bin. Und wie kann ich gelassener werden?
Viel üben, wach zu sein. Viel üben dort, wo es nicht so schwierig ist; und dann zusehends dort, wo es schwieriger ist. Wach sein und „tief schauen“. Wahrnehmen, was ist. Die Dinge sehen, wie sie sind. Dann wirst du mit der Zeit von selbst gelassener.
Nicht alles glauben, was wir denken
Bei starken Emotionen sehen wir verzerrt, zum Beispiel indem wir übertreiben und dramatisieren. Wir fallen zurück in alte Muster. Je wacher wir sind, desto mehr bemerken wir genau das. Und dann wächst auch der Abstand zu den Gefühlsausbrüchen unseres Kindes und zu unseren eigenen ersten inneren Reaktionen. Wir glauben nicht mehr alles, was wir denken und fühlen. Wir bekommen eine Wahl. Eine Wahl für eine Antwort statt einer schnellen, automatischen Reaktion.
Als mein Sohn (erstes von drei Kindern) etwa fünf Jahre alt war, hatten wir einen heftigen Konflikt, und er fing an, mich anzuspucken. Ich war nahe dran, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Er war außer sich und ich war es auch. Im Nachhinein wurde mir immer klarer, wie stark meine Konditionierung war, mein Glaubenssatz, wonach Anspucken das Schlimmste und Entwürdigendste ist, was man einem Menschen antun kann. Und mein Sohn macht das mit seinem Vater?
Viele Jahre später hatte ich im Kindergarten immer wieder mit einem Jungen zu tun, der mich sehr forderte. Wenn ich ihn zu mir holen musste, weil er nicht aufhören konnte, andere zu ärgern, begann er mich anzuspucken. Er sabberte auf meine Arme, mit denen ich ihn für eine Weile bei mir hielt, ohne ihn aber zu packen und festzuhalten. Bei aller Anstrengung hatte ich verstanden, wie fordernd es für ihn generell war, sich über längere Zeit in einer Gruppe von Kindern aufhalten zu müssen. Ich konnte erstaunlich gelassen bleiben.
Es war zudem nicht mein Kind – das schafft viel Abstand und bewahrt mich davor, ein Versagen als Vater als zusätzliche „negative Energie“ einzubringen. Und mein Glaubenssatz zum Spucken war verblasst. Konditionierungen können sich verändern. Ich hatte erfahren, dass ich die Ärmel meines Pullovers oder meine Arme waschen kann. Je gelassener ich mit seinem Spucken sein konnte, desto weniger eskalierten solche Situationen.
Wir üben nicht Gelassenheit, sondern Wachheit
Anspucken kann Glaubenssätze aktivieren und dementsprechende heftige Reaktionen verursachen. Anspucken kann Ausdruck von Hilflosigkeit, Wut und Ohnmacht sein. Nichts Persönliches. Verantwortlich für unsere Aufregung und Aggression ist nicht das Kind; auch ich selbst bin nicht schuld daran, sondern allenfalls eine erlernte Konditionierung.
Ich sehe die Dinge nicht, wie sie sind, sondern so wie ich (konditioniert) bin. Konditionierung lässt sich nicht einfach weg-machen, aber sie kann im Licht der Achtsamkeit gesehen werden und verblassen. Unser Gehirn bleibt offen für neue Wege und Verknüpfungen. Wachheit, Bewusstheit ist die Grundlage für Veränderungen.
Der Mystiker Anthony de Mello* schreibt:
… und dann taucht die große westliche Frage auf: Wie kriegen wir das in den Griff? Kennen Sie die große östliche Antwort auf diese Frage? Sie kriegen es nicht in den Griff. Sie lassen es, wie es ist. Es verschwindet von selbst. Je mehr Sie versuchen, es in den Griff zu bekommen, desto stärker wird es. […]
Wenn Sie wild entschlossen an der Auflösung arbeiten – „Ich muss unbedingt rauskriegen, woher diese Sache kommt, und sie dann verändern“ -, dann machen Sie alles nur noch schlimmer, da können Sie sicher sein. Viele Menschen ändern sich nie, weil sie so entschlossen sind, sich zu ändern. Sie sind so angespannt, machen sich so viele Gedanken, dass alles nur noch schlimmer wird. […]
Wie kann ich etwas verändern? Sie verändern es nicht, Sie verstehen es! Sie sehen es an, beobachten es, und es erledigt sich von selbst. […] das macht das Leben, die Natur. Sie heilen sich nicht selbst, das macht die Natur; sie helfen der Natur nur ein wenig.
Wir versuchen uns nicht in den Griff zu kriegen, wir lassen uns sein und beobachten uns. Mit Güte und lebendigem Interesse. Wir üben nicht Gelassenheit, sondern Wachheit. In der formalen Meditation und Achtsamkeitspraxis genauso wie im Alltag mit Kindern. Die Früchte wachsen von selbst, wenn wir unseren Boden pflegen und kultivieren.
Steve Heitzer
*Anthony de Mello, Das Leben neu entdecken. Herder-Verlag Freiburg i.B. 2013, S.82-84.
Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.
Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.