Balancieren auf einem Seil

Balancieren auf dem Drahtseil

„Du genügst nicht“, sagt eine innere Stimme des Lehrers Adrian Bröking permanent. Das, was von ihm erwartet wird, ist nicht zu schaffen. Achtsamkeit half ihm, dieses Muster zu erkennen und innere Balance zu finden.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Als Lehrer führe ich oft Dutzende von Gesprächen am Tag,  Gespräche mit Schüler:innen, mit Kolleg:innen, mit Eltern, oft nur Gesprächsfetzen zwischen Tür und Angel, hineingequetscht in eine 5-Minuten-Pause, Minidialoge im Feinstaubnebel des Kopierers, auf der Treppe.

Seit ich Achtsamkeit praktiziere, höre ich den Menschen mehr zu, lausche ihren Worten, auch in diesen kurzen Momenten, und lasse sie widerhallen in mir.

Und mehr und mehr nehme ich einen emotionalen Grundton in mir wahr, der alles zu durchströmen scheint und der sich auf die folgende selbstzerstörerische Feststellung bringen lässt: „Du genügst nicht!“

Die Arbeit wird nie fertig

Wir haben eine Lehrverpflichtung, die in den vergangenen 20 Jahren um 25 Prozent zugenommen hat und reagieren darauf mit zwei Strategien: Die einen unterrichten die 26 Stunden und verausgaben sich dabei oft derart, dass sie die nächste unterrichtsfreie Zeit („Ferien“) mehr müde als wach und mehr krank als gesund erreichen.

Die anderen reduzieren ihre Unterrichtsstunden, weil sie glauben, so besser gesund bleiben zu können oder weil sie den Ansprüchen an die eigene Arbeit genügen wollen und scheitern doch.

Wir stehen vor Korrekturbergen. Wir erhalten in regelmäßigen Abständen neue Rahmenlehrpläne, die in schulinterne Curricula gegossen werden müssen, um zu gewährleisten, dass wir unsere Schüler vor Ort individuell optimal auf ihre künftige Rolle in der Gesellschaft vorbereiten können.

Wir werden regelmäßig inspiziert, weil man uns nicht traut, dass wir unsere Arbeit professionell nach den Maßstäben erfüllen, die „eigentlich“ gelten.

Wir verfügen an der Schule über keine eingerichteten Arbeitsplätze, so dass wir Zuhause  zwischen der nie fertig werdenden Arbeit für die Schule und den Ansprüchen unserer Rollen als Väter, Mütter und Lebenspartner permanent vom Drahtseil fallen.

Sie lernen, dass jede Note entscheidend sein kann

Auch unsere Schüler genügen nicht: Sie checken auf dem Weg zum Frühstück ihren Whatsapp-Klassenchat, wo sich über Nacht 150 neue Mitteilungen angesammelt haben, darunter immer auch die eine oder andere Bösartigkeit.

Sie werden am Frühstückstisch von Papi noch mal eben gefragt, ob sie auch wirklich genug für die Mathearbeit heute gelernt haben.

Sie hören jeden Tag, wie wichtig, Mathe, nein Deutsch, nein Spanisch, nein Physik, nein … ist und dass sie jetzt fürs Leben lernen und dass sie sich ihre Chancen verbauen, wenn sie sich jetzt nicht endlich konzentrieren.

Sie leben damit, dass in der Woche drei Klassenarbeiten geschrieben werden dürfen, für Tests und andere Evaluationen aber keine klaren Regeln existieren und sich somit die Wochen vor den Ferien andauernd in Examensdauerläufe verwandeln.

Sie lernen in der Oberstufe, dass jede Note entscheidend sein kann, weil jeder Zehntelpunkt hinter dem Komma darüber bestimmt, ob ihr Leben dann auch nach der Schule weiter einen Sinn hat oder endlich einen erhält.

Die Kirschbäume blühen und ich bin okay

Während ich schreibe, spüre ich in mich hinein und fühle all die Beklemmung, Scham, Angst, Wut, Überforderung, das ganze Spektrum an Emotionen, das uns tagtäglich in der Schule überflutet und mit dem wir uns gegenseitig negativ aufladen und schwächen.

Dann hebt sich mein Blick und ich sehe die Kirschbäume vor dem Fenster, mit den ersten Knospen, endlich, nach so langem Frost, in der klaren Berliner Frühlingssonne. Und ein zartes, wohliges Gefühl der Dankbarkeit kitzelt den Emotionsknoten klein.

Es ist zu Beginn Dankbarkeit für diesen schönen Tag, meinen zweiten Ferientag. Aber dann weitet sie sich aus beim Gedanken an die Achtsamkeit. Denn diese Praxis weist mir einen Weg, wie ich dieser Negativität etwas entgegen setzen kann:

im Kleinen, indem ich meinen Mitmenschen an der Schule lausche, ganz Ohr werde, indem ich meine Schüler:innen Schritt für Schritt entdecken lasse, wie wir unsere Wirklichkeit über unsere Wahrnehmung selbst konstruieren, im Zusammenspiel von Gedanken, externen Erfahrungen und Emotionen.

Und wenn sie dann beginnen, das Durcheinander klarer zu sehen und es mit Gelassenheit zu betrachten und sie Raum für die Erkenntnis schaffen, dass sie nicht alles glauben müssen, was sie sich selbst tagtäglich erzählen, dann kommt der Moment für ein Gespräch über die innere Stimme, über dieses vergiftende „Ich genüge nicht!“.

Und wir starten Experimente, wie es sich anfühlt, wenn wir es bewusst ersetzen durch Affirmationen, die uns gut tun, Sätze wie „Ich bin ok!“, „Ich bin da!“ oder „Du bist genug“. Und sie spüren nach, wie sich „Ich liebe mich!“ anfühlt und sie merken, dass das nicht geht. („Echt zu heavy!“) Aber das „Ich bin ok“ ganz gut kommt.

Und mir wird wieder bewusst, wieviel Qualität die Achtsamkeit in meinen Beruf bringt und wie wenig mich die x.te neue Studie schert, die in Frage stellt, dass Achtsamkeitsprogramme bei Jugendlichen wirken.

Denn es könnte eine Studie sein, die nichts als ein weiterer Reflex der „Du-Genügst-Nicht“-Gesellschaft ist. Diese Gesellschaft versucht zu verhindern, dass die Einzelne in ihre Kraft kommt, und dann, indem sie sich selbst verändert, beginnt, ihre Umgebung zu transformieren.

Adrian Bröking ist Lehrer an einem Berliner Gymnasium. In einer Krise 2011 stieß er auf die Achtsamkeit und machte einen MBSR-Kurs. Seit 2012 integriert er Achtsamkeit in den Unterricht und macht Angebote für Schüler:innen und Kolleg:innen. Er betreibt einen eigenen Blog.

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  • Balancieren auf Seil: Amit Avrahami/ shutterstock.com
  • Adrian Bröking: privat