Illustration Adrian Bröking

Ich bin mehr ich selbst geworden

Erfahrungsbericht von Adrian Bröking, Lehrer am Gymnasium

Adrian Bröking ist Lehrer mit Leib und Seele. Doch der Stress setzte ihm zu, bis er die Achtsamkeit für sich entdeckte. Wie ihm die Praxis half, mehr er selbst zu sein, schildert er in seinem Erfahrungsbericht.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Die Krisensymptome nahmen irgendwann Überhand. Als Lehrer hatte ich das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden. Deswegen dehnte ich meine Arbeitszeiten immer weiter aus – zum Schluss sogar auf den frühen Morgen ab 5 Uhr. Dennoch wurde ich nie fertig. Wie auch? Fertigwerden ist nicht vorgesehen im Lehrerberuf und objektiv auch gar nicht möglich.

In der Schule rannte ich von morgens früh bis zum Nachmittag ohne Pause von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde. Unterrichten ist Hochleistungssport. 13-jährige Pubertierende saugen einem die Energie in einer Doppelstunde Englisch aus dem Körper, egal wie positiv sie dir gegenüber stehen.

In den Pausen zwischen den Stunden dann noch Kopieren, Schülergespräche zu Banalitäten, aber auch menschlichen Abgründen, Abstimmungen mit Kolleg:innen und der Schulleitung – oft in einer Taktfrequenz, bei der ich nicht Zeit für die elementarsten Dinge wie etwa Trinken fand.

Keine Zeit für die wirklich wichtigen Dinge

Ich bin Lehrer mit Leib und Seele. Und deshalb quälte es mich, dass ich in all den banalen organisatorischen Dingen, die meinen beruflichen Alltag füllten, nicht die Zeit für die wirklich wichtigen Dinge fand: Zeit für individuelle Beratungen von Schülern etwa, die an der deutschen Schule nicht eingetaktet ist. Sie geht immer zu Lasten der vielen anderen Pflichten, oftmals furchtbar bürokratischer Art, die dennoch erledigt werden müssen.

So verließ ich die Schule regelmäßig mit einem Gefühl der Unzufriedenheit und Ohnmacht. Auf dem Weg nach Hause, wenn auf dem Fahrrad der Adrenalinspiegel sank, fielen mir  fast die Augen zu. Trotzdem fing in meinem Kopf dann schon der innere Perfektionist an mich daran zu erinnern, dass ich am Nachmittag noch sechs Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten hatte.

Kurz darauf meldete sich mein schlechtes Gewissen zu Wort und erinnerte mich an meine väterlichen Pflichten: In einer Stunde kamen die Kinder aus Schule und Kindergarten und wollten mit Papa spielen. Wenn ich mich mit dem Mittagessen beeilte, konnte ich sie vielleicht sogar noch abholen.

Ich führte ein Leben als Teufelskreis, im Hamsterrad, in der Tretmühle – und hatte mich in mein Schicksal gefügt, bis ich auf das Thema Achtsamkeit traf.

Eine regelmäßige Praxis etablieren

Im Jahr 2011 startete ich meinen ersten MBSR-Kurs, Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Wir waren eine recht kleine Gruppe, sechs Teilnehmer und die Leiterin. Von Beginn an beeindruckte mich die Ruhe und das Vertrauen, mit der wir alle miteinander umgingen.

Der Kurs war so aufgebaut, dass wir in jeder Woche verschiedene Meditations- und Yogatechniken erlernten und diese jeweils auf eine unterschiedliche „innere Haltung“ bezogen. So beschäftigten wir uns nacheinander mit den folgenden acht zentralen Aspekten der Meditation: Nicht-Urteilen, Geduld, den Geist des Anfängers bewahren, Vertrauen, Nicht-Greifen, Dankbarkeit, Loslassen und Entschlossenheit .

Von größter Bedeutung war, dass es mir tatsächlich gelang, täglich für mindestens 45 Minuten zu meditieren, wie es vorgesehen war. Denn das begriff ich rasch: Meditation ist kein Glaube, kein Nachbeten großer Weisheiten, sondern in erster Linie die eigene Erfahrung. Es ist die Praxis, das Nach-Innen-Hören und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse über dich selbst und dein Leben – und dies war es, was mich am meisten daran faszinierte: die Souveränität, die ich mit diesen Erfahrungen plötzlich über mein Leben erhielt.

Zwischenfazit: Ein achtsames Jahr später

Nach Abschluss des MBSR-Kurses habe ich allein weiter Achtsamkeit praktiziert. Ich habe es geschafft, die Meditation zum festen Bestandteil meines Alltags zu machen. Ich stehe in der Regel um 5:15 Uhr auf und meditiere eine halbe Stunde im Sitzen. Die Sitzungen ergänze ich mit einer Viertelstunde Yogaübungen. Im Laufe des Tages versuche ich, mindestens 20 weitere Minuten Zeit für eine zweite Sitzung zu finden.

Meine Aggressionen sind praktisch verschwunden. Zwar gerät ab und zu immer noch mein Blut in Wallung. Jedoch gelingt es mir heute, rechtzeitig vor dem Ausbruch Kontakt mit meinen hochkochenden Emotionen aufzunehmen und sie mit wohlwollender Betrachtung zu bändigen. Im Extremfall verlasse ich den Raum, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Mein Beruf ist nach wie vor anstrengend, aber er frisst mich nicht mehr auf. Trotz der durchschnittlich fünf Stunden Nachtschlaf bin ich den Morgen über fast immer präsent, zugewandt und geduldig.

Meine Art des Kommunizierens hat sich verändert. Ich vertraue viel mehr als früher auf meine Intuition und erfahre ein ausgesprochen positives Feedback von meinen Schülern und deren Eltern. Und so habe ich ein Achtsamkeitstraining für meine Schüler ins Leben gerufen.

Mein Unterricht hat sich verändert. Durch die Kombination von Entspannungs- und Konzentrationsübungen mit fremdsprachendidaktischen Inhalten entwickle ich neue Übungs- und Arbeitsformen, deren Effizienz und ganzheitlicher Charakter mich und meine Schüler verblüffen.

Ich schaffe es, mehrere Projekte gleichzeitig zu bearbeiten, ohne dabei in Panik zu geraten. Insgesamt leiste ich mehr und fühle mich glücklicher dabei.

Ich genieße Geräusche, Musik, Literatur, Bilder, die Natur auf eine ganz neue Weise, indem ich sie ganz neu wahrnehme. Ich bin Brotbäcker geworden, backe seit vielen Monaten mehrfach in der Woche köstliches Brot und freue mich, wenn meine Töchter ihre Schulbrote gern essen.

Bin ich ein anderer Mensch geworden? Ach nein, viel schöner: Ich bin mehr ich selbst geworden!

Adrian Bröking

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Wie kann ich mit Achtsamkeit anfangen?

Adrian Bröking ist Lehrer an einem Berliner Gymnasium. In einer Krise 2011 stieß er auf die Achtsamkeit und machte einen MBSR-Kurs. Seit 2012 integriert er Achtsamkeit in den Unterricht und macht Angebote für Schüler:innen und Kolleg:innen. Er betreibt einen eigenen Blog.

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  • Illustration Adrian Bröcking: Bitteschön.tv
  • Adrian Bröking: privat