„Ein junger Mann suchte einen Zen-Meister auf. „Meister, wie lange wird es dauern, bis ich Erleuchtung erlangt habe?“ „Vielleicht zehn Jahre“, entgegnete der Meister. „Und wenn ich mich besonders anstrenge, wie lange dauert es dann?“, fragte der Schüler. „In dem Fall kann es zwanzig Jahre dauern“, erwiderte der Meister. „Ich nehme aber wirklich jede Härte auf mich. Ich will so schnell wie möglich ans Ziel gelangen“, beteuerte der junge Mann. „Dann“, erwiderte der Meister, „kann es bis zu vierzig Jahre dauern.“ Mumon Koan
Nach dem Erlernen grundlegender Achtsamkeitsmethoden tauchen bei der Entwicklung und Weitergabe der Achtsamkeitspraxis neue Herausforderungen auf, die ein besonderes Feintuning benötigen. Die „Achtsamkeitserwartungen“ an andere und an sich selbst steigen und es besteht die Gefahr, dass sich die Selbst-Anleitung als „Über(w)achtsamkeit“ verabsolutiert.
Jon Kabat-Zinn soll das Ergebnis scherzhaft „achtsamkeitsbasierte Stressproduktion“ genannt haben. Schon das Erlernen von Achtsamkeit benötigt zeitliche, finanzielle und mentale Ressourcen, die einem vielleicht fehlen. Das kann Stress erzeugen.
Überachtsamkeit oder weises Bemühen?
Gegen „Überachtsamkeit“ hilft die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Absichten von Achtsamkeit: die Befreiung von unnötigem Leid bzw. die Vergegenwärtigung von mitfühlendem Verständnis. Ein Bestandteil der Kultivierung dieses Zieles ist weises Bemühen.
Beim weisen Bemühen oder Anstrengen geht es um die Vermeidung oder Überwindung unheilsamer Geisteszustände und die Erweckung und Erhaltung heilsamer oder wohlorientierter Geisteszustände. Wir können uns fragen: Was würde dieser Situation gut tun?
Wie beim Stimmen eines Saiten-Instruments entsteht ein guter Klang weder durch Überspannung noch durch Laschheit. Das möglichst wohl gespannte Instrument ist man im pädagogischen Kontext selbst. Zur Einstimmung können einem diese Fragen helfen: Wie geht es mir eigentlich gerade? Was würde mir selbst gerade guttun? Passen meine Erwartungen und Impulse zu der Situation?
Übertragen auf Situationen mit Schüler*innen oder Gesprächspartner*innen benötigen einige (Unterregulierte) mehr Anregung und andere mehr beruhigende Entspannung für gelingende Interaktionen.
Praxisübung: Eine Faust oder den ganzen Körper anspannen, halten, loslassen, nachspüren. Den Körper schlaff werden lassen, loslassen, spüren. Dann eine Körperspannung zulassen mit der du dich jetzt wohlfühlst.
Absichtslosigkeit
Die Kinder benötigen uns Pädagog*innen für alle Interaktionen als echt spürbares Gegenüber. Dafür dürfen wir die Methoden in den Hintergrund sinken lassen und unserem natürlichen, mitfühlenden Interesse an diesem Moment, an diesem Gegenüber vertrauen. Wir müssen absichtslos praktizieren.
Absichtslosigkeit ist im Buddhismus eines der drei Tore der Befreiung, neben Leerheit und Zeichenlosigkeit. Thich Nhat Hanh schreibt: „Absichtslosigkeit – manchmal auch ‚Ziellosigkeit‘ genannt – bedeutet nicht, dass wir nichts mehr tun, sondern dass wir kein Ziel mehr vor uns aufstellen, dem wir hinterherrennen und nachjagen.“*
Im MBSR-Programm gibt es entsprechend die Haltung des Nicht-Erzwingens: Man kommt „durch die Meditation am besten zu Ergebnissen, wenn man vom Streben nach Zielen ablässt und stattdessen die ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, die Dinge in ihrem Sosein zu sehen, Augenblick für Augenblick.“**
Zu den besten Ergebnissen kommt man meiner Meinung nach, wenn man – nach genügender Sammlung – auch das absichtliche Streben nach dem Augenblick sein lässt. So erinnere ich auch Lehrer Bhikkhu Analayo auf einem Retreat mit Aussagen wie: „Erwachensenergie aufbauen und dann loslassen“.
Zwischen Methode und Gewahrsein
Ich möchte das als Pendeln oder Pulsieren beschreiben zwischen methodisch aufgebauter Achtsamkeit und verkörpertem Wohl-Gewahrsein. Durch methodisch aufgebaute und abrufbare Achtsamkeit auf den Atem, Körper, die Sinne, die Anerkennung gegenwärtiger Gefühle und auf wohlorientiertes Verständnis wird eine Sicherheit des Körpers und mentale Stabilität erlangt.
Von dieser sicheren Basis aus kann ich mich vertrauensvoll hingeben an das Noch-nicht-wissen, was mein Gegenüber gerade beschäftigt und ob etwas konkret hilfreich sein kann für ein gutes Miteinander.
Im klassischen Anleitungstext Satipatthana Sutta*** wird Achtsamkeit innen und außen entwickelt: das heißt, man nimmt wahr, ob Achtsamkeit da ist oder nicht da ist, ohne zu urteilen.
Praxisübung: Entdecke Achtsamkeit(en) in anderen. Ich kann wahrnehmen, wie jemand durchatmet, sich seinen Stift nimmt, sich etwas zu trinken einschenkt, mit seiner Kleidung umgeht, jemanden anspricht.
Absichtslos im Umgang mit anderen zu praktizieren bedeutet für mich, meinen Mitmenschen ihre eigene Achtsamkeit oder Buddha-Natur zu unterstellen und zuzugestehen. Ich habe mal gelesen, dass viele Menschen in der U- oder S-Bahn meditieren. Zu dem Zeitpunkt war das für mich unvorstellbar. Mittlerweile habe ich doch einige Momente erlebt, in denen mir Menschen unerwartet achtsam zugehört haben.
Achtsamkeit kann zeitweise durch Stress, Egoismus, Frust, Ärger oder Ignoranz verdeckt sein. Ich weiß aber, dass sie da ist und wieder ihren Weg und Ausdruck findet. Und dann freue ich mich auf und an Momenten geteilter Achtsamkeit.
Thorsten Geiger
* Thích Nhất Hạnh: Leben ist, was jetzt passiert. Seite 106
** Jon Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation. Seite 88
**** zum Ursprung von Vipassana- und Achtsamkeitsmeditation
Thorsten Geiger arbeitet als Erzieher in einer Berliner Kita. Er ist Facherzieher für Integration, SAFE®-Mentor (Sichere Ausbildung für Eltern) und Lehrer für Gewaltfreie Kommunikation (Gabriele Seils). Seit 2015 ist er (MBSR-)Achtsamkeitslehrer (Arbor Seminare). Für Erzieher:innen bietet er einen selbst-entwickelten Achtsamkeitskurs an und gibt Workshops zu verschiedenen Themen. Seine aktuellen Angebote finden Sie hier.