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Kinder behutsam anleiten – Traumasensitive Achtsamkeit

Für Menschen, die Achtsamkeitsübungen im Unterricht oder als AG für Kinder und Jugendliche anleiten, ist es wichtig, sich auch mit traumasensitiver Achtsamkeit zu beschäftigen. Marika Muster hat für uns die wichtigsten Aspekte zusammengefasst.

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Wenn Kinder und Jugendliche in Situationen kommen, die sie stark überfordern, können Traumata entstehen oder alte seelische Wunden wieder aufgerissen werden. Vor allem in den letzten Jahren ist das Thema relevanter geworden. So hat während der Corona-Pandemie in den Zeiten des Lockdown die häusliche Gewalt stark zugenommen. Studien zeigen, dass sich mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen durch die Pandemie seelisch belastet fühlen. Zudem kommen traumatisierte Kriegsflüchtlinge z. B. aus Syrien und Ukraine in deutsche Schulklassen.

Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich hilflos und ohnmächtig in ihren Lebensumständen. Gerade jetzt ist es gut, Achtsamkeit im Klassenzimmer zu praktizieren und über Gefühle und Stress miteinander in den Dialog zu kommen. Lehrer*innen sollten dabei allerdings wissen, dass der Blick nach Innen auch Traumata verstärken und somit für Betroffene eine Herausforderung sein kann.

Was bedeutet Trauma und wann ist ein Mensch traumatisiert?

Die Deutsche Traumastiftung definiert Trauma (griech.: Wunde) im psychologischen Bereich als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Als traumatisierend werden im Allgemeinen belastende Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet.“

Wenn es sich um ein einmaliges schlimmes Erlebnis handelt, spricht man von einem Schocktrauma. Es gibt aber auch sogenannte Entwicklungs- und Bindungstraumata, die in frühester Kindheit entstehen – etwa durch einen komplizierten Geburtsvorgang, die Trennung von der Mutter oder wenn Baby lange Weinen und niemand zu ihnen kommt.

Viele Traumata regulieren sich innerhalb weniger Wochen wieder. Bei 15-25 % der Betroffenen bleibt aber eine sogenannte posttraumatisches Belastungsstörung (PTBS). Ob aus einer Ausnahme-Situation ein Trauma wird, hängt davon ab, als wie belastend ein Mensch die Situation empfindet. Kann jemand nicht aus der Situation fliehen oder sich wehren, entsteht ein starkes Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung, zum Beispiel bei Flüchtlingskindern durch Kriegs- und Fluchterlebnisse.

Wie zeigt sich eine Traumatisierung?

Es kann (auch lange nach einem Ereignis) noch zu Alpträumen oder „Flashbacks“ (Nachhallerinnerungen) kommen. Man ist schreckhaft, hat Erinnerungslücken und ist in ständiger Alarmbereitschaft. Der Körper ist im Stress, es laufen eine Reihe von Stressreaktionenen ab. Im Extremfall (eher selten!) sind das die drei „F“ Fight, Flight und Freeze, also Kampf, Flucht und Starre. Kinder oder Jugendliche, die in einen dieser Zustände kommen, wirken abwesend und sind nicht in der Lage, das Programm, das vom „Reptiliengehirn“ (1) gesteuert wird, bewusst zu beenden.

Außerdem kann es zu Angststörungen und Vermeidungshaltung kommen (z. B. Angst vor dem Fliegen mit dem Flugzeug, Vermeiden von großen Menschenmengen) sowie zu Schlafstörungen, Depressionen und Suchterkrankungen.

Traumasensitiv Achtsamkeitsübungen anleiten

Beim achtsamen Blick nach innen können Kinder und Jugendliche in Kontakt mit den abgespeicherten traumatischen Informationen kommen. Um zu verhindern, dass diese Informationen das Trauma reaktivieren (Retraumatisierung), sollte jeder Achtsamkeitslehrende diese Hinweise beachten:

  • Kinder und Jugendliche immer wieder dazu auffordern, nur das zu machen, was ihnen guttut. Sollte eine Übung unangenehme Gefühle hervorrufen, sollte sie nicht durchgeführt werden.
  • Immer Alternativen anbieten. Für einige Kinder ist es zum Beispiel unangenehm, die Augen zu schließen, dann können die Augen leicht geöffnet bleiben. Wer nicht sitzen möchte, kann liegen (und umgekehrt). Wer es unangenehm findet, nach innen zu spüren, der kann seine Aufmerksamkeit nach außen richten (z. B. auf das Hören von Geräuschen oder Spüren mit dem Tastsinn).
  • Bei der Arbeit mit Kindern, bei denen Traumata bekannt oder erwartbar sind (z. B. Flüchtlingskinder), die achtsame Aufmerksamkeit ausschließlich nach außen richten: Was siehst du? Was riechst du? usw.
  • Nur kurze Übungen anleiten, dafür öfter. (Keine langen Bodyscans durchführen, wie sie im MBSR verwendet werden)
  • Achtsamkeit mit Bewegung kombiniert anbieten, z. B mit Yoga- oder Qigong-Übungen.
  • Wenn man nach innen geht, dann positive Bilder anbieten (Kraftort, Sonne, Wärme usw.).
  • Möglichkeiten bieten, nicht mitzumachen (z. B. Malen, während die anderen eine Übung machen).

Umgang mit dem Trauma

Wenn es zu einer offensichtlichen Retraumatisierung kommt, dann sollten Sie als Lehrkraft Ruhe bewahren und das Kind oder den/die Jugendliche*n dabei unterstützen, sich zu regulieren. Außerdem sollten Sie beim Verdacht auf ein Trauma in den Dialog mit den Eltern gehen und ggf. professionelle Hilfe hinzuziehen. Vielleicht gibt es eine Schulpsycholog*in oder Sie fragen beim sozial-psychologischen Dienst nach Unterstützung. Hilfe bekommen Betroffene in psychotherapeutischen Praxen oder Notfallambulanzen.

Zusätzlich zu den kassenfinanzierten therapeutischen Verfahren (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) gibt es verschiedene Arten von speziellen Traumatherapien, etwa EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, also: Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederverarbeitung ), Somatic Experiencing, PITT (und speziell für Kinder PITT-Kid), die teilweise auf Körperebene, teilweise imaginativ (Erzeugen von Bildern) arbeiten.

Fazit

Achtsamkeit bietet enorme Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen und sollte unbedingt Einzug in die Klassenzimmer halten. Wer die oben genannten Hinweise beachtet, kann auch mit (potenziell) traumatisierten Kindern arbeiten. Achtsamkeit wird – richtig angewendet – sogar bewusst in die Traumtherapie eingebunden. Wichtig ist nur, sensibel dafür zu sein, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche anders auf die Prozesse reagieren als nichttraumatisierte und ihnen entsprechende Hilfestellung anzubieten.

Marika Muster

(1) Der Hirnstamm und das Zwischenhirn gehören zum sog. Reptilienhirn. Es ist die niedrigste und stammesgeschichtlich älteste Form des Gehirns und steuert angeborene Instinkte, besitze aber nur bedingte Lernfähigkeit und ermöglicht noch kein Sozialverhalten.

Literatur zum Thema

David Treleaven, Traumasensitive Achtsamkeit: Posttraumatischen Stress erkennen und vermindern. Sicherheit und Stabilität vermitteln. Mit 36 konkreten Modifikationen für die Praxis, Arbor-Verlag, Freiburg, 2019

Die Reise des Schmetterlings ist ein Bilderbuch, das bei der Stressregulation helfen soll. Das Buch ist nun auch auf Ukrainisch erhältlich.

Die Ruhe einladen – Selbstregulation für Kinder

Marika Muster ist Journalistin und hat mehrere Jahre als Lehrerin und Lernbegleiterin an verschiedenen Schulen in Schleswig-Holstein gearbeitet. Sie hat viel Erfahrung in der Erwachsenenbildung (z.B. Schulfach Glück) und in der Seminarleitung mit Jugendlichen (Klimagipfel des BUND). Sie hat "Schulfach Achtsamkeit" gegründet und bietet selbständig Lehrerfortbildungen und Onlinekurse an.

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  • Jugendlicher: Armin Starudt / photocase
  • Marika Muster: privat