Die Fragen stellte Sarina Hassine.
Frage: Inke Hummel, Sie stehen für die beziehungs- und bindungsorientierte Begleitung von Kindern. In Ihrer Beratungspraxis arbeiten Sie seit vielen Jahren mit Eltern und Kindern. Seit 2020 geben Sie auch Fortbildungen für Pädagog:innen. Warum sind Bindung und Beziehung auch im Kontext Schule so wichtig?
Inke Hummel: Damit ein Mensch lernt, muss er motiviert sein. Kinder und Jugendliche sind das natürlich in vielen Bereichen, aber gerade im Schulischen kann das je nach Fach und Lebensalter schwanken und sehr schwierig werden. Dann ist Beziehung die Rettung! Wenn Schüler:innen spüren, dass es der Lehrkraft wichtig ist, dass sie mitmachen, vorankommen und ein anerkannter Teil der Klassengemeinschaft sind, motiviert sie das.
Ein pubertierendes Kind wird eher am Ball bleiben, wenn Lehrer:innen selbst kleinste Fortschritte und Bemühungen sehen, wenn sie Interessensgebiete der Schüler:innen berücksichtigen, aber vielleicht auch um Schwierigkeiten außerhalb des schulischen Bereiches wissen.
Was kann ich als Pädagog:in konkret tun, wenn ich erkenne, dass ein Kind zu Hause keine guten Beziehungen erlebt? Welche Möglichkeiten gibt es und wo sind Grenzen?
Hummel: Selbstverständlich sind Lehrkräfte keine Psycholog:innen und können keine Bindungsdiagnostik durchführen. Aber sie können versuchen, im Beziehungsdreieck mit Schüler:in und Eltern zu ergründen, wie die Kommunikation zu Hause ist, wie viel Raum das Kind und seine Bedürfnisse haben und hatten. Und wenn es hier schwierig ist zusammenzukommen, kann auch nur im Austausch mit dem Kind oder Jugendlichen selbst auf Spurensuche gegangen werden.
Herausfinden sollte man auch, wo er oder sie selbstwirksam sein kann. Sind hier Defizite im Elternhaus zu erkennen, kann die Schüler:in vielleicht im Klassen- oder Schulverband diese Erfahrungen machen.
Dem Schüler mehr Verantwortung geben und ihm zeigen, dass er wichtig ist.
In der Fortbildung war zuletzt ein Team, das ein Problem mit einem jugendlichen Schüler hatte. Er fiel im Unterricht dadurch auf, dass er immer wieder laut reinruft, oft auf die Toilette geht oder sonst wegläuft, die ihm übergebenen Aufträge nicht löst und andere Lernende ablenkt. Ich gab den Lehrer:innen den Hinweis, ihm mehr Verantwortung zu übergeben und ihm zu zeigen, dass er wichtig ist.
Da der Schüler gut in Mathe ist, bekam er den Auftrag, anderen eine Art Nachhilfe zu geben und Aufgaben zu erklären. Außerdem unterstützt er jetzt die Englischlehrkraft mit kleinen Einsätzen als Assistent – Englisch ist ein Fach, das ihm eher schwer fällt. Die Pädagog:innen haben versucht, ihm seine „Angst vor dem Versagen“ zu nehmen, indem sie ihn gezielter an die Aufgaben heranführen und sich „Exklusivzeit“ für ihn nehmen, wenn es die Rahmenbedingungen zulassen.
Dies hat dazu geführt, dass er nun öfter und auch über längere Zeitspannen an seinen Aufgaben arbeiten kann und motivierter in die Lektionen geht, die ihm nicht liegen. In solchen Fällen ist es hilfreich, zu erkennen, dass der Schüler nicht nur „stört“. Und wenn er dies tut, dann weil er mehr Sicherheit und Wertschätzung sowie Zuwendung braucht.
In Ihren Fortbildungen geben Sie auch entwicklungspsychologisches Wissen über Kinder an die Lehrkräfte weiter.
Hummel: Ja. Zuletzt habe ich mit Pädagog:innen gearbeitet, die im Berufsalltag vor allem Kinder an der Schwelle zur Pubertät vor sich sitzen hatten. Wir haben aufgefrischt und vertieft, was die Entwicklungsaufgaben und -herausforderungen sind, und allein das machte die Zuhörenden direkt sicherer und offener für ihre Schüler:innen.
Den Lehrer:innen wurde bewusst, wo die Jugendlichen stehen, was sie biologisch leisten müssen und welchen Effort es sie kostet, jeden Tag früh aufzustehen und den ganzen Tag Leistung bringen zu müssen.
Welche Rolle spielen die Eltern im Kontext einer „beziehungsorientierten Schule“?
Hummel: Schulen, die Eltern als Partner sehen, haben in der Regel die beste Lernatmosphäre. Alle sollten gemeinsam sprechen und handeln – nicht gegeneinander und auch nicht über das Kind hinweg. An der Schule meiner Kinder erlebe ich das genauso: Die Kinder sind beispielsweise von Anfang an in den Gesprächen am Elternsprechtag willkommen. Sie werden ermutigt, in Beziehung zu gehen, Probleme mit zu betrachten und Lösungen zu suchen. Gemeinsam mit den Eltern. Man fühlt sich in guter Weise verpflichtet.
Bei Kindern, die oft den Unterricht stören, sich schwer konzentrieren können oder viel zappeln, werden heutzutage oft ADHS und Co diagnostiziert. Wie sehen Sie das? Was bedeutet das für die Lehrkräfte?
Hummel: Ja, diese Ursachen gibt es selbstverständlich alle, aber oftmals liegen auch ganz andere Gründe vor, nämlich zum Beispiel Folgen von Bindungsunsicherheiten durch gefährdende Erziehungsstile. Für die Lehrkräfte bedeutet dies, wenn ein/e Schüler:in zur psychologischen Diagnostik geschickt wird, nicht nur an Anamnesebögen zu ADHS & Co. zu denken, sondern auch eine Bindungsdiagnostik empfehlen, falls sie hier Anzeichen für eine Problematik erahnen.
Und darüber hinaus wünsche ich mir natürlich, dass wir schon viel früher ansetzen und damit weniger derartige Problematiken in den Schulen hochkochen: Bindungstheoretisches Wissen gehört für mich verbindlich in die Elternbildung, am besten schon vor der Geburt des ersten Kindes (wie beispielsweise in den SAFE-Kursen nach Karl-Heinz Brisch), sowie auch viel, viel stärker in die Kindergärten und in die Planungen rund ums Einschulen. Dann können Bindungsproblematiken vermieden oder frühzeitig erkannt und bearbeitet werden.
Welche Tipps möchten Sie unseren Leser:innen geben, damit sie gleich morgen etwas für ihre Beziehungen im Klassenzimmer tun können?
Hummel: Grundlegend ist eigentlich, sich zunächst mit seinem eigenen Bindungsverhalten zu befassen. Denn Erwachsene mit einem erlernten unsicheren Bindungsstil haben es schwer, mit Schüler:innen gute Beziehungen einzugehen. Das ist ein großes Feld, dessen Bearbeitung sehr fordernd sein kann.
Geht es demokratisch zu oder was kann dafür noch getan werden?
Direkt umsetzbar im Alltag sind Pläne wie eine Kooperation der Lehrkräfte eines/r herausfordernden Schüler:in, um gemeinsam Beziehungen zu verbessern und Hintergründe zu erforschen. Hilfreich ist auch, sich mit gewaltfreier Kommunikation zu befassen. Und man sollte schauen, inwieweit die Kinder und Jugendlichen im Unterrichtsgeschehen oder im Finden von sozialen Regeln Mitspracherecht haben. Geht es demokratisch zu oder was kann dafür noch getan werden? Auf diesem Weg steigt die Chance auf bessere Beziehungen.
Woher kommt Ihr Interesse am Thema Bindung?
Hummel: In den Jahren meiner pädagogischen Arbeit wurde mir immer stärker deutlich, dass Bindung und Beziehung der Schlüssel sind, um so viele Probleme zu verstehen und zu lösen. Nicht nur in Familien, sondern in allen Bereichen, in denen Menschen zusammenkommen. Das hat eine politische Relevanz. Beziehung ist immer Prophylaxe. Und Investition. Nicht nur die Wahrscheinlichkeit für zukünftiges unproblematischeres Lernen wird mit jedem Schrittchen erhöht, sondern auch für zukünftig unproblematischeres Leben!
Inke Hummel ist pädagogische Beraterin bei sAchtsam Hummel und Autorin für Kinderbücher und Erziehungsratgeber. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog*innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Ihre neuesten Bücher: „Mein wunderbares wildes Kind“ (2021), „Nicht zu streng, nicht zu eng“ (2022, SPIEGEL-Bestseller) - beide bei humboldt erschienen.