Meditieren in der Uni: Die Viadrina macht es vor

Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder bietet gestressten Studierenden angeleitete Meditationen in der Mittagspause, Achtsamkeits-Workshops und einen Mindful-Monday-Blog.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Marianne Tatschner ist eine dynamische, aufgeweckte Person, die den Dingen gerne auf den Grund geht. Ihre Diplomarbeit in Psychologie an der Freien Universität Berlin schrieb sie über “Achtsamkeitsbasierte Therapieansätze”. Das war im Jahr 2010. Heute arbeitet sie als Psychologin u.a. an der Europa-Universität Viadrina und als Lehrerin für MBSR (Stressbewältigung durch Achtsamkeit).

Längst ist ihr die Achtsamkeit zur Herzensangelegenheit geworden. In Beratungen, Kursen und einem Blog bringt sie Student:innen die Praxis näher, um sie bei einem stressfreien und ausgeglichenen Weg durchs Studium zu unterstützen.

Abenteuer Achtsamkeit

Im Rahmen ihrer Beschäftigung in der Psychologischen Studierendenberatung leitet Tatschner seit Mai 2018 eine Meditationsgruppe in einem eigens hergerichteten Raum, wie sie begeistert erzählt. Die offene Meditationsgruppe richtet sich an Student:innen und Mitarbeitende der Universität. Die Gruppe trifft sich zweimal  wöchentlich in der Mittagspause für 30 Minuten, um sich auf das „Abenteuer Achtsamkeit“ einzulassen.

Auf ihrer Webseite verdeutlicht die Psychologin, dass Achtsamkeit mitnichten ein idealisierter und diffuser Zustand der Gedankenleere, Ruhe oder Entspannung sei. Vielmehr verbirgt sich hinter dem Begriff die Fähigkeit, im Frieden mit sich und dem zu sein, „was ist“ – auch wenn sich die Situation gerade eher unangenehm oder neutral anfühle.

Was Neulinge bei Meditation oft vermissen

„Das ist auch die häufigste Irritation von Anfängern einer Meditationseinheit oder eines Achtsamkeits-Workshops – manche zeigen sich enttäuscht, dass sie nicht mit dem Denken aufhören und sich augenblicklich entspannen können“, sagt Marianne Tatschner amüsiert, ohne es wertend zu meinen. „Viele wissen nicht, dass Meditation zu Beginn keine Entspannung bewirkt, weil man sich ja mit der Situation konfrontiert, in der man sich befindet“.

Für sofortige Entspannung eigne sich hier eher progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder Imagination. „Die Konfrontation mit der momentanen Situation oder derzeitigen Gefühlen und Gedanken im Zuge der Achtsamkeit kann manchmal, aber nicht immer, zu Entspannung führen. Etwa, wenn man weniger gegen sich selbst und das Erlebte ankämpft und ein anderes Verhältnis zum Denken aufbaut“, weiß Tatschner.

Es geht ihr, das merkt man im Gespräch schnell, nicht allein um den bloßen Stressabbau. Sie möchte einen wachen Blick nach innen und nach außen schulen, damit man mehr beobachtet, mehr akzeptiert, sich weniger optimiert und sich seltener in der eigenen Gedankenwelt verliert. Zu den Meditationen kommen über Monate und sogar Jahre oft dieselben Teilnehmer:innen – der Erfolg gibt dem Konzept offenbar Recht. Während an den Meditationen zwischen zwei und neun Student:innen teilnehmen, beteiligen sich an den Achtsamkeits-Workshops bis zu 20 Teilnehmer:innen.

Achtsamkeit nicht instumentalisieren

„Bei unseren Achtsamkeits-Workshops und in meiner Meditationsgruppe geht es darum, sich auf das Abenteuer der Selbstwahrnehmung einzulassen. Der Effekt ist in der Regel ein sehr positiver: Man hilft sich selbst, lebendiger und bewusster durchs Leben zu gehen und damit auch unguten, unbewussten Prozessen früher entgegenzusteuern. Das ist hilfreich in allen Lebenslagen, auch im Studium“, so Tatschner.

Seit Bologna habe sich das Lernen an der Uni stark verändert und der Druck merklich zugenommen: „Hier muss man aufpassen, dass man Achtsamkeit nicht instrumentalisiert, um Bedingungen auszugleichen, die das Studium erschweren. Hier sollte man eher über die  Bedingungen selbst nachdenken und diese verändern“, gibt die MBSR-Trainerin zu bedenken.

Das sei, als ob Unternehmer:innen ein Achtsamkeitscoaching für einzelne Mitarbeiter:innen buchen würden, die zu häufig krank seien. Skeptisch werde sie, wenn Achtsamkeitspraktiken für falsche Ziele geübt würden. „Bei unserem Angebot an der Viadrina geht es eher darum, die eigenen Blockaden und Denkmuster zu erkennen und diese aufzulösen – und weniger um Leistungsoptimierung“, verdeutlicht Marianne Tatschner.

Resilienz allein reicht nicht

Die Zentrale Studienberatung an der Viadrina, zu der auch die Psychologische Beratungsstelle gehört, bietet schon seit Jahren jedes Semester psychologisch relevante Workshops für Studierende aller Studiengänge an. Die Themen sind Resilienz, Glück, Aufschieben, Prüfungsangst oder der Umgang mit dem inneren Kritiker. Das Programm wird immer gut nachgefragt.

Die Themen Achtsamkeit und Meditation brachte Marianne Tatschner selbst 2018 in das Programm mit ein. „Ich konnte meine Kolleg:innen davon überzeugen, dass Resilienz allein nicht genügt. Da fehlte noch der grundsätzliche Blick der Studierenden nach innen und nach außen auf die Welt“, verdeutlicht die Psychologin.

Meditation nicht in Akutphasen

Studierende mit bestimmten psychiatrischen Vorerkrankungen sollten beim Meditieren jedoch vorsichtig sein: „Wir Psycholog:innen sagen, dass Psychosen, Schizophrenie und emotionale Instabilität etwa nach einem traumatischen Unfall, Gewalterlebnis oder Todesfall Kontraindikationen für Meditationen sind – man damit also nicht meditieren sollte – zumindest nicht ohne individuelle psychologische Begleitung“, gibt Tatschner zu bedenken. Gerade wenn es akut sei, empfiehlt sie immer, gerne in der Gruppe dabei zu bleiben, aber während der Meditation lieber über eine Hausarbeit, die Steuererklärung oder etwas anderes nachzudenken und gegebenfalls die Kamera auszuschalten.

Veränderungen seit Corona

Vor zwei Jahren war die Zentrale Studienberatung gezwungen, die psychologischen Angebote für die Student:innen an das Distance-Learning-Modell anzupassen. Die Coronapandemie akzeptierte die Psychologin zwar als unabdinglich und gewann dem rasch etwas Positives ab: „Ich empfand es als unheimlich bereichernd, die Trennung zwischen den eigenen vier Wänden und der Meditationsgruppe im Onlineangebot aufgehoben zu sehen. Das erleichtert es ungemein, die Meditation in den Alltag zu holen“, sagt sie in beschwingtem Ton. Doch man spürt hinter den Worten, wie sehr sich die ausgebildete Achtsamkeitstrainierin wieder nach dem Meditationsraum mit der Bezeichnung „Raum 0017“ im Erdgeschoss des Uni-Hauptgebäudes sehnt.

„Achtsames Studieren bedeutet für jeden etwas anderes“

Achtsamkeit sei aber nichts, das sich Psycholog:innen erdacht hätten, sondern letztlich eine menschliche Grundfähigkeit. Man sollte nicht missionarisch werden und der Meinung sein, jeder müsse permanent irgendetwas praktizieren. Für jeden könne Achtsamkeit auch etwas anders bedeuten: die eine möchte ihre Stress-Auslöser kennenlernen, ein anderer sich über mögliche „Zeitdiebe“ bewusst werden, ein dritter möchte mit sich selbst besser in Kontakt kommen, sich vielleicht über die Studienrichtung klar werden.

„Wenn ich bemerke, was innerlich passiert und das nicht sofort bewerte oder wegschiebe, ergeben sich in aller Regel interessante Ideen für die eigene Zukunft“, findet die Psychologin. Es gehe um kleine Momente, in denen man elementare Dinge spürt.

Maria Köpf

 

Marianne Tatschner ist Diplom-Psychologin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, systemische Beraterin und Lehrerin für MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) und MSC (Mindful Self Compassion). Hier kommen Sie zu Ihrem Angebot.

 

Weitere Informationen

Hier kommen Sie zum Angebot zu Achtsamkeit und Meditation an der Viadrina. Und zum Flyer der Offenen Meditationsgruppe.

Mindful Monday nennt sich der Achtsamkeits-Blog der Zentralen Studienberatung an der Viadrina. (Ungefähr) alle zwei Wochen wird montags an dieser Stelle eine Achtsamkeits-Anregung – zum Ausprobieren, Mitmeditieren und Teilen gepostet.

Maria Köpf ist Journalistin, Dozentin und Mutter in ihrer Wahlheimat Österreich. Derzeit legt sie ihren Schwerpunkt auf Gesundheit, Psyche und Sprache. Ihre erste große Liebe aber war die Literatur. Am liebsten entspannt sie mit einer Tasse Zistustee und ersinnt mit einem guten Hörbuch ferne Welten. Mehr Informationen über sie hier.

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  • Hauptgebäude der Viadrina: Heide Fest
  • Maria Köpf: privat