Yoga-Mama

Mein Kind nervt – oder etwa nicht?

Kinder brauchen und suchen körperlichen Kontakt. „Aber muss das ausgerechnet bei meinem Yoga sein?“ Achtsamkeit bedeutet sich ganz einzulassen und neu hinzuschauen. Kinder „stören“ nicht, sie wollen uns berühren – Rücken und Herz.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Eine Mutter meldet sich nach einem Vortrag und klagt über das Verhalten ihres Sohnes Toni: Er stört sie bei ihren Yoga-Übungen. Immer wenn sie sich auf den Boden legt, um mit ihren Übungen zu starten – macht er was? Er beginnt auf ihr herumzuturnen.

Während seine Schwester gerne die Yoga-Übungen mit der Mama macht, macht er Mama zu seiner Yoga-Matte. „Der muss doch verstehen, dass das weh tut“, klagt sie mir gegenüber. Und: „Der muss doch lernen, dass er das nicht darf! Dass das … gefährlich ist!“

Hier erwartete sich die Zuhörerin von mir vermutlich nicht nur Verständnis für ihren Jungen, sondern auch für sie als Mama. Hier hätte sie von mir gerne gehört: Ja, du hast völlig recht. Hier musst du deinem Kind Grenzen setzen. Hier musst du für dich einstehen.

Bei allem Verständnis, dass Mütter gut für sich sorgen müssen (v.a. wenn die Väter kaum da sind!), hier musste ich sie leider enttäuschen. Aber noch bevor ich etwas erwidern konnte, setzte sie noch eins drauf: „Jedes Mal, wenn ich mich auf den Boden lege, ist das für ihn wie eine Einladung, auf mir herumzuklettern!“. Sie hätte ihm das schon „hundertmal erklärt“.

Wenn wir etwas schon „hundertmal gesagt haben“, sollten wir besondere Vorsicht walten lassen. Es ist wie ein Alarmzeichen, ein Warnsignal, das darauf hinweisen könnte: Hier geht es vielleicht um ein authentisches Bedürfnis des Kindes, für das es sorgen muss.

Menschen wollen sich körperlich spüren

„Jedes Mal, wenn ich mich auf den Boden lege….“ –  Ja, auf diese Einladung wartet er. Und, das musste ich die Mutter fragen: „Wann soll er es denn sonst machen?“ Vielleicht musste hier nicht er etwas lernen, vielleicht war sie dran.

Kinder haben ein oft weit unterschätztes Bedürfnis, sich und andere körperlich zu spüren. Sie leben noch viel mehr in ihrem Körper als wir. Das wird sich leider auch legen, und je älter sie werden, desto wichtiger wird der Kopf werden. Natürlich ist unser Denken wichtig und unsere  intellektuelle Entwicklung.

Aber die Kinder werden dann vieles mit dem Kopf versuchen zu bearbeiten und zu kompensieren, was vielleicht gar nicht „da oben“ zu lösen ist – so wie wir das eben (viel zu oft) tun. Und sie werden dabei ähnlich „scheitern“ wie wir Erwachsenen.

In der Achtsamkeitspraxis wie im Yoga kommen wir dem Bedürfnis nach, wieder heimzukehren zu unserem Körper. Unser Leib ist der einzige Ort, an dem wir die Welt und das Leben buchstäblich erfassen können. Und es ist ein Weg der Heilung, unseren eigenen Leib wieder richtig zu spüren.

Die Ironie der Geschichte von Tonis Mama liegt darin, dass sie vielleicht das Gleiche sucht wie ihr Sohn. Sie auf „formelle“ Weise über ihre Yoga-Übungen, während ihr Sohn es „informell“ versucht: Sich körperlich spüren. „Runterkommen“, wie wir Erwachsene es so gerne nennen.

Nahrung für die Sinne

Das geht natürlich auch – und vielleicht noch besser – mit anderen zusammen. Im Kontakt mit anderen, verspricht die „Übung“ nicht nur viel „Information“ und „Nahrung“ für die Sinne, sondern auch mehr Freude und Beziehung, Nahrung für unser Herz.

Kinder kommen ihrem körperlichen Bedürfnis auch dadurch nach, dass sie toben dürfen, sich frei und wild bewegen und die Natur erfahren, im Kontakt mit Erde, Wasser, Luft, Feuer. Kinder dürfen sich noch auf den Boden werfen. Aber schon hier erfahren sie bald auch die Begrenzungen der Erwachsenen und das Ende des Verständnisses, sobald sie nicht mehr ganz klein sind.

Was also wollte Yoga-Mamas kleiner Sohn? Er wollte nicht nerven. Er wollte seiner Mama nur nahe sein.

Beim gleichen Vortrag meinte eine weitere Mutter: „Jetzt weiß ich endlich, was meine Tochter da immer tut!“ Sie berichtete, dass sie sich beim Schlafengehen immer zu ihr legte. Um halt ein bisschen zu kuscheln. Aber das genügte ihr eben nicht. Sie brauchte viel stärkeren Kontakt. Sie wollte eigentlich mit ihr balgen. Jedenfalls turnte sie im Bett herum.

Wenn wir das Verhalten des Kindes verstehen – Achtsamkeit, bedeutet Einsicht, „tief schauen“, dann bekommt ein Kind weniger das Gefühl, es wäre „falsch“, obwohl es nur einem authentischen Bedürfnis folgt.

Sich einlassen – beim Yoga und im Spiel

Natürlich soll die Mama in Ruhe ihre Yoga-Übungen machen dürfen. Auch ungestört von ihrem Sohn. Aber das bedeutet eben auch, dass ihr Sohn – vielleicht an anderer Stelle, zu einem anderen Zeitpunkt – diesen Kontakt bekommen sollte, den er braucht.

Orte und Zeiten, wo wir auf Empfang schalten und uns „verfügbar machen“. Am Fußboden oder draußen auf der Wiese besteht eine wunderbare Möglichkeit, einander ganz nahe zu sein und die Beziehung zu stärken.

Wenn wir offen für die Überraschungen des Lebens sind, bekommen wir manchmal Einsichten oder handfeste Geschenke wie eine liebevolle Berührung, eine Geste, einen Blick – Dinge, die wir leicht übersehen, wenn wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind. Kinder können uns wahrlich aus dem Kreisen um uns selbst befreien – was für eine große Sehnsucht hinter Meditation und Achtsamkeitspraxis!

Achtsamkeit bedeutet, uns ganz einzulassen und „neu hinzuschauen“. So können wir unser „Urteil“ revidieren, das Kind würde stören, nerven oder gar bewusst provozieren. Wir können uns berühren lassen – Rücken und Herz. Natürlich sind wir nicht immer offen für so viel Körperkontakt und Nähe. Aber die Gelegenheiten sind nicht so zahlreich im Alltag, wenn wir ganz ehrlich sind.

Es lohnt sich manchmal, sich zu überwinden und sich ganz einzulassen, auch wenn man/frau gerade gar keine Lust hat, oder viel zu beschäftigt ist, oder gerade mal wieder tausend Dinge dagegen sprechen. Vielleicht hilft es, sich bewusst zu machen, worum es dem kleinen Jungen wirklich geht: Liebe! Wenn er könnte, würde er seine Mama fragen: „Hast du gerade mal kurz Zeit zurückzulieben?“

Steve Heitzer

Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.

Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im  Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

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  • Illustration: Lena Hesse
  • Steve Heitzer: Sebastian Schieder