Mutter und Kind am See

TransParents: Elternsein als Prozess

Als Eltern kommt man an seine Grenzen. Kirsten Timmer unterstützt Eltern darin, ihre eigenen Kindheitserfahrungen zu reflektieren und zu heilen, damit sie eine erfüllte Beziehung zu ihren Kindern leben können.

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Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Was ist Ihr Anliegen mit TransParents und wie sieht Ihre Arbeit praktisch aus?

Kirsten Timmer: In vielen Situationen im Kontakt mit Kindern kann es für Eltern schwierig werden, sodass wir die Kinder anschreien oder die Geduld verlieren, oder wir sehen herausforderndes Verhalten bei Kindern oder Jugendlichen. Unser Grundanliegen besteht darin, Lern- und Erfahrungsräume zu schaffen, in denen Eltern sich selbst und ihre Kinder besser verstehen lernen, um authentischere und liebevollere Beziehungen zu führen. Dazu bieten wir Einzelcoachings, Kurse und Trainings an. Hier geben wir keine einfachen Rezepte, sondern begleiten meist tiefere Prozesse.

Mit welchen Methoden begleiten Sie solche Prozesse?

Timmer: Unsere Arbeit gründet auf dem Modell NARM, dem neuroaffektiven Beziehungsmodell von Dr. Laurence Heller. Darin geht es vor allem um Entwicklungstrauma*. Das Wissen darüber ist sehr unterstützend, um zum Beispiel zu verstehen, warum man sich als Mutter oder Vater oft so falsch oder schlecht fühlt oder das Gefühl hat, mit mir ist etwas nicht in Ordnung. In der Beziehung mit unseren Kindern werden unsere eigenen Bindungserfahrungen aktiviert. Hier zeigen sich tiefere Identifikationen, die in der Kindheit entstanden sind.

Wenn Menschen diese Zusammenhänge verstehen, entwickeln sie größeres Mitgefühl für sich selbst.

Wenn Menschen diese Zusammenhänge verstehen, entwickeln sie größeres Mitgefühl für sich selbst. Sie erkennen, warum sie an einigen Stellen an ihre Grenzen kommen. Dabei legen wir Wert auf eine Grundhaltung der Neugier. Wir versuchen, ein Feld zu schaffen, in dem Eltern neugierig werden, um dann Neues lernen zu können.

Spielt in dieser Begleitung auch Achtsamkeit eine Rolle?

Timmer: Neugier ist ein innerer Zustand von mehr Offenheit und damit auch ein innerer Zustand von Achtsamkeit. In der Neugier gehe ich mehr in Beziehung mit mir selbst oder der Situation. Wenn ich reaktiv bin, dann habe ich keinen inneren Raum. Ich bin den Filtern der Vergangenheit ausgesetzt und reagiere, obwohl ich weiß, dass es nicht so gut ist. Ich bin in einem Automatismus gefangen.

Achtsamkeit bedeutet, einen bewussten Innenraum zu schaffen, sodass ich meine Reaktionen wahrnehmen kann – mit denen ich nicht mehr einverstanden bin. Diese Einsicht ist schon der Anfang der Veränderung, da wir hier einen Zugang zur eigenen Lebendigkeit finden können.

Elternkurs von TransParents

 

Wenn man einen inneren Raum wahrnimmt und nicht so identifiziert ist mit der Vergangenheit, dann wird auch mehr Freiheit möglich, um sich so zu entscheiden oder so zu handeln, wie man eigentlich möchte.

Timmer: Ja, diese innere Freiheit bezeichnen wir als Agency, eine innere Gestaltungskraft, durch die ich mich wirklich entscheiden kann. In unserer Arbeit mit Eltern bieten wir Übungen an, um die Gestaltungskraft in uns zu entdecken. Wir fühlen uns dann nicht mehr als Opfer der Umstände oder der Situation mit unserem Kind, sondern wir finden einen inneren Handlungsfreiraum.

In unserer Arbeit mit Eltern bieten wir Übungen an, um die Gestaltungskraft in uns zu entdecken.

Auch Hintergrundwissen kann helfen, innere Freiräume zu schaffen: Es ist gut zu wissen, dass zum Beispiel Kinder unter sieben Jahren in ihrer Entwicklung auf eine bestimmte Art und Weise unreif sind –  auch wenn sie seelisch vielleicht viel größer sind. Bei dieser kognitiven, emotionalen, sozialen Unreife brauchen sie unser tiefstes Mitgefühl.

In Situationen, die für sie schwierig sind, z.B. wenn die Gefühle sie überschwemmen, können wir ihnen die Hand reichen, um diese Unreife zu überbrücken. Auch eine Situation, in der mein Kind sich nicht so sozial verhält, kann ich dadurch viel besser begleiten. Ich kann mehr Mitgefühl zeigen oder es aus der Situation herausnehmen, wenn es z.B. zu müde ist.

Das Wissen hilft mir, das Verhalten des Kindes nicht persönlich zu nehmen. Mit meiner Gestaltungskraft kann ich schauen, was das Kind jetzt braucht. Ich entwickle eine Haltung der Neugier. Ich frage: Was ist das Tiefere, was jetzt gerade verstanden werden möchte?

Wie können Eltern mit diesen inneren Identifikationen heilsam umgehen?

Timmer: In unserer Arbeit ist das Erforschen von dem, was uns im Wege steht, ein wichtiger Aspekt. Das ist auch eine Frage der Achtsamkeit. Im Hier und Jetzt zeigen sich auch unsere eigenen Verletzungen, in denen primäre Gefühle „eingefroren“ sind.

Das sind primäre Gefühlszustände wie Protest-Energie und Wut, durch die wir versucht haben, unseren Bindungspersonen zu zeigen, dass für uns etwas nicht in Ordnung ist. Oder auch Trauer über einen Verlust oder eine Trennung, in der wir uns alleingelassen fühlen. Wenn wir mit diesen primären Gefühlen in Kontakt kommen, dann verbinden wir uns wieder mehr mit uns selbst.

Wir können Kinder in einem starken Willen unterstützen und ihnen gleichzeitig in einigen Situationen ein Nein geben.

In der Arbeit mit den Eltern stellen wir diese Gefühle in den Vordergrund, weil sie in der Beziehung zu den Kindern angesprochen werden. Kinder können sehr starke Gefühlszustände haben, was in uns alte Verletzungen wachrufen kann. Wenn ich in einer neugierigen Haltung bin, kann ich wahrnehmen, was das in mir auslöst.

Wenn ich selbst mit meiner Aggression gut umgehen kann, dann kann ich eine gesunde Lebensaggression in den Kindern unterstützen und die Schönheit darin sehen. Wir können Kinder in einem starken Willen unterstützen und ihnen gleichzeitig in einigen Situationen ein Nein geben.

Sie sprechen damit eine Verfeinerung der Gefühlswahrnehmung an. Das setzt auch eine Bewusstheit für die eigenen emotionalen Zustände und eine gute Wahrnehmung für die emotionalen Zustände des Kindes voraus, die ja auch sehr schnell wechseln können.

Timmer: Nur wenn ich mit mir selbst verbunden bin in einer inneren Achtsamkeit, kann ich mit den Emotionen des Kindes in Resonanz gehen. Je mehr ich in ein erwachsenes Bewusstsein hineinwachse, desto besser kann ich die Gefühle und das Verhalten des Kindes in mir abbilden. Ich spüre, ist mein Kind einfach erschöpft und braucht eigentlich Mitgefühl und eine Begrenzung, damit es wirklich weinen kann.

Das sind komplexe Prozesse, durch die wir eingeladen sind, mit unseren Kindern zu wachsen. Es ist ein gemeinsames Wachsen, durch das wir die Verbindung stärken können. Aber das ist ein Weg, das geht nicht von heute auf morgen.

Viele Eltern haben gelernt, sich sehr stark anzustrengen, um perfekte Eltern zu werden.

Wie verändert sich durch solch einen Prozess das Selbstverständnis der Eltern?

Timmer: Sie fühlen, dass die Verbindung gestärkt wird. Das gibt ihnen ein erfüllendes Gefühl. Wir lieben unsere Kinder, gleichzeitig ist der Alltag oft anstrengend. Oft sprechen wir nicht darüber, wenn man an seine Grenzen kommt. Durch unsere Arbeit entsteht auch eine Haltung der Gelassenheit. Ein Aspekt des Erwachsenseins ist, Gelassenheit und Humor zu entwickeln, das heißt, wir sind nicht hundertprozentig identifiziert.

Aus den ungünstigen eigenen Bindungserfahrungen haben viele Eltern gelernt, sich sehr stark anzustrengen, um perfekte Eltern zu werden. Darin folgen sie der leistungsbezogenen Denkweise unserer Kultur. Denn wir wollen es viel besser machen als unsere Eltern: bindungsorientiert, achtsam und respektvoll. Viele Eltern scheitern oder erschöpfen sich an dieser Anstrengung.

Es geht also nicht um einen perfekten Zustand von Gelassenheit, sondern um ein Kontinuum von immer mehr Gelassenheit. Durch Gelassenheit bekomme ich mehr Raum, mehr Vertrauen. Ich nehme es nicht sofort persönlich, wie mein Kind sich verhält. Ich erfahre mein Kind als eigenständiges Wesen und das ermöglicht eine tiefere Verbindung.

Das heißt, erst wenn ich weiß, dass das Kind ein eigenes Wesen ist, kann ich eine Verbindung zu ihm aufbauen, die freier ist von eigenen Bedürfnissen oder Erwartungen, die man auf das Kind projiziert.

Timmer: Ja, kognitiv versteht man das schnell, um es aber auch innerlich zu erfahren, leiten wir Übungen an. Indem du dir zum Beispiel vorstellst, dass dein Kind wirklich da drüben ist und du bist hier. Dabei kommt vielleicht Stress auf, weil du mit deiner eigenen Geschichte des Verlassenwerdens in Kontakt kommst. Aber das ist deine Geschichte, sie hat nichts mit dem Kind zu tun. Durch dieses neugierige Erforschen können wir das Kind immer mehr als eigenständiges Wesen erkennen. Und das verstärkt die Verbindung.

Sehr oft wollen Eltern, dass es ihren Kindern immer gut geht, dass sie sich immer sicher fühlen und eine achtsame, respektvolle Begleitung bekommen. Das sind wichtige Werte, aber wir koppeln sie häufig an unsere eigenen Bindungserfahrungen. Dann sind wir abhängig davon, dass unser Kind sich immer sicher fühlt, dass es ihm immer gut geht. In einer solchen „Kindzentrierung“ sind wir stark mit dem Kind identifiziert und fast davon abhängig, dass es dem Kind gut geht, weil es uns innere Sicherheit gibt.

Wenn wir in unseren Traumata gefangen sind, nehmen wir das Verhalten der Kinder schnell persönlich und das ist die Ursache von sehr viel Stress.

Dann wird es natürlich für das Kind schwierig, auch mal starke Gefühle zu haben. Oder es wird für uns Erwachsene schwierig, Kinder durch eine Frustration zu begleiten und Nein zu sagen. Es kann passieren, dass wir die starken Gefühle des Kindes persönlich nehmen. Stattdessen können wir die Zuversicht finden, dass das Kind meine innere Ruhe braucht.

Wenn wir uns nicht gesund trennen konnten und in unseren eigenen Traumata gefangen sind, dann nehmen wir es schnell persönlich und das ist die Ursache von sehr viel Stress. Und die Kinder können viele Prozesse nicht lernen.

Wenn wir sie hingegen gelassen oder achtsam begleiten können, lernen die Kinder zum Beispiel, mit Frustrationen umzugehen, wenn etwas nicht so geht, wie sie es gerne wollen. Wir können für sie der Fels in der Brandung sein und gleichzeitig ein Engel des Trostes, der die Tränen der Vergeblichkeit bezeugt. Dann lernt das Kind zu bedauern, wenn etwas nicht so geht, wie es das möchte, kann dann aber wieder in eine Weichheit kommen und muss nicht in der Frustration stecken bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

*Ein Entwicklungstrauma ist eine tiefgreifende seelische Verletzung, die aus einem langen Prozess von Unterdrückung, gefühlter Hilflosigkeit oder Gewalt entstehen kann. Entwicklungstraumata haben ihren Ursprung in der frühen Kindheit. Insbesondere wenn ein Kind in einem direktiven, strengen oder gefühlskalten Elternhaus aufwächst, im chaotischen Elternhaus aufwächst, geschlagen oder missbraucht wird, direkt oder subtil abgelehnt oder gedemütigt wird, zu früh mit Erwachsenen-Aufgaben betraut wird (z.B. der Aufsicht über jüngere Geschwister), selbst psychisch kranke Eltern hat (meist depressive Eltern, Alkoholiker oder Eltern mit einer Persönlichkeitsstörung), mit einer unentdeckten Entwicklungsstörung aufwächst (z.B. Autismus), häufig wechselnde Lebensmittelpunkte, Wohnorte, Länder oder Bezugspersonen hat. 

 

Kirsten TimmerKirsten Timmer ist eine der Gründerinnen und CEO von TransParents. Sie ist Psychologin, Psychotherapeutin spezialisiert in NARM®, dem Neuroaffektiven Beziehungsmodell zur Traumaheilung bei Dr. Laurence Heller und Elternberaterin. Sie liebt die transformierende Arbeit mit Eltern und Fachkräften, lehrt in zahlreichen Trainings, Kursen oder spricht an Kongressen. Sie hat an der Universität in Zürich/Bern Psychologie studiert, sich eingehend mit der Bindungsforschung auseinandergesetzt und danach eine Ausbildung zur humanistischen Psychotherapeutin nach C.R. Rogers durchlaufen. Sie ist Gründerin der „Arco Schule“ in Berlin, ein Ort für natürliches, selbstbestimmtes Lernen. Seit 2007 ist sie Senior Student von Thomas Hübl, einem zeitgemäßen spirituellen Lehrer und Mystiker. Kirsten ist Mutter eines heute erwachsenen Sohnes. Mehr über TransParents finden Sie hier.

Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Mehr über ihn und seine Arbeit finden Sie auf seiner Seite.

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