Von der Kunst des Beschreibens

Eine der hilfreichsten Übungen für Pädagog*innen ist das „reine Beschreiben“. Für Konflikte heißt das, man schaut sich die Situation an, anstatt vorschnell zu urteilen. Einige Praxisbeispiele für den Elementarbereich von Steve Heitzer.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Wenn wir Achtsamkeit in unseren pädagogischen Alltag mit Kindern hineinbringen wollen, dürfen wir uns nicht auf formelle Übungen beschränken; das Wesentliche ist und bleibt unsere Haltung und unser Verhalten im pädagogischen Alltag. Umgekehrt kann genau dieser Alltag für uns zur Praxis werden, zur informellen Einübung dessen, was Achtsamkeit bedeutet. Für mich haben sich in den letzten Jahren hier vier Aspekte herauskristallisiert.

Einer davon ist das Beschreiben als ein Schlüssel zu einer achtsamen Haltung – auch wenn es so unscheinbar daherkommt. Ich halte „Beschreiben“ für eine der wichtigsten Übungen für uns Pädagog*innen, v.a. in der Begleitung der Kinder im Elementarbereich.

Wenn wir lernen zu beschreiben, was wir wahrnehmen, tun wir das, was Jon Kabat Zinn immer wieder als Wesen der Achtsamkeit gekennzeichnet hat, nämlich „wahrnehmen, was ist, ohne zu urteilen“. Wir bringen es nur zusätzlich mit Worten zum Ausdruck – für die Kinder, für uns selbst. Darin steckt ein enormes Potenzial, eine ganze Schatztruhe, auch wenn darauf „nur“ das Etikett „Beschreiben“ draufsteht. Hier ein paar Beispiele aus der Praxis.

Praxisbeispiel: Störungen

Eine meiner wichtigsten Lehrstücke im Kindergarten war der „störende Noel“. Jemand ruft mich aus dem Nebenraum, ich solle kommen… Noel würde (wieder einmal) stören, nerven … Leider geh ich – selbst nicht gut drauf an diesem Tag – diesem Glaubenssatz vom störenden Noel auf den Leim und ziehe ihn buchstäblich aus dem Verkehr, als er meiner mehrmaligen Aufforderung nicht folgt, von den großen Holz-Klötzen auf dem Teppich wegzugehen.

Er hatte sich mitten hineingelegt, als zwei Kinder gerade aufräumen wollten. Ich ziehe ihn etwas unsanft von den Klötzen weg, mit denen die Kinder gebaut und gespielt hatten, was natürlich zur Folge hatte, dass er auf meinen Kampf einstieg und nach mit treten anfing. Die Geschichte ist noch viel länger, aber entscheidend ist hier, dass ich immer wieder darüber nachgedacht hatte, was ich hätte anders machen können. Später erst kam mir folgender Satz, den ich leider nicht gesagt hatte. Als ich sehe, was hier zu sehen war, sage ich einfach: „Hm, der Noel liegt hier mitten auf den großen Klötzen … – tut denn das nicht weh?“

Die Spur des Beschreibens ist wie ein genialer Schachzug, denn er lässt die „Falle“ des bereits etablierten Bildes von dem ewig störenden Noel hinter sich und eröffnet eine völlig andere Perspektive: „Tut denn das nicht weh?“ Noel ist ein sehr körperliches Kind, und solche Kinder ecken ständig an, weil sie Dinge tun, die so oft wie Provokation aussehen, während eigentlich tiefe Bedürfnisse oder Experimentierfreudigkeit dahinter liegen. So könnte ich fortfahren: „Das muss ich jetzt auch mal ausprobieren… macht ihr mit?“ Und schon könnten wir uns alle auf die Klötze drauflegen und uns als Fakire versuchen, und nebenbei den Glaubenssatz vom störenden Noel loslassen, indem wir der „coolen Idee“ Noels folgen …

Praxisbeispiel: Konflikte

Eine andere Geschichte, die ich immer wieder als Musterbeispiel für eine „achtsame Pädagogik“ erzähle, ist folgende. Als David in einer Spielgruppe nach Emmi Pikler einen Steckturm baut und ihm nur noch ein paar wenige Teile fehlen, kommt Lukas dazu, nimmt die fehlenden Teile zu sich und verschanzt sich bei seiner Mama, die am Rand sitzt. Die leitende Pädagogin beherrscht die Kunst des Beschreibens und erkundigt sich bei David, ob er die Klötze noch braucht. Natürlich braucht er sie noch und sie gehen es dem Lukas zusammen sagen: „Ich weiß, du möchtest den Turm auch gern bauen, aber David braucht die Klötze noch.“

Kein Erklären, weder Dramatisieren noch Bagatellisieren gegenüber David. Kein Drohen an Lukas, nicht einmal die Aufforderung, Lukas solle die Klötze zurückgeben, aber auch kein Moralisieren, und auch keine Aufforderung zum „Nett-sein“; und auch sie versucht nicht, nett mit Lukas zu reden. Sie bleibt klar, ohne ihn in die Enge zu treiben. Als er darauf beharrt „de brauch i“, sieht sie wie er angespannt die Klötze bei seiner Mama am Schoß festhält. Und wieder tut sie nur was? Beschreiben.

„Du hältst sie ganz fest bei deiner Mama …. Wenn du fertig bist mit dem Halten, braucht David sie noch.“ Ein genialer Satz… aber sie tut noch etwas: Sie geht weg, lässt die Situation frei und vertraut darauf, dass Lukas vielleicht in diesem Freiraum zur Kooperation finden kann. Und tatsächlich gibt er die Klötze dem David.

Es spricht für die Pädagogin, dass sie selbst ohne Happy End diesen Weg für richtig halten würde. Es braucht die Freiheit zu kooperieren oder auch nicht. Und sie traut dem David zu, mit der Frustration umgehen zu können, die geblieben wäre, wenn Lukas die Klötze nicht hergegeben hätte.[1]

Handgreiflichkeiten und große Gefühle

Wenn wir bei Handgreiflichkeiten dazwischen gehen müssen (müssen wir!), habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, meine Intervention mit wenigen Worten zu begleiten, also zu beschreiben, was und warum ich das tue: „Ich muss jetzt dazwischen gehen, damit hier niemandem weh getan wird!“ Dadurch können die Kinder einordnen, warum ich mich jetzt einmische und dass ich selbst niemanden bedrohen möchte. Dass ich de-eskalieren möchte. „Schützen statt Erziehen“ ist für mich ein wichtiger Leitsatz für solche heiklen Missionen.

Das sollen die Kinder erfahren: In einem Moment intensiver Gefühle geht es mir nicht darum, irgendwen zurechtzuweisen, sondern zuerst einmal nur darum, sie voreinander zu schützen. Wenn das Handgemenge nicht aufhört und ich weiter intervenieren muss, kann ich sagen: „Ich lasse dich jetzt nicht“ … auf deinen Kollegen einschlagen, ihn treten etc., bzw. bei verbalen Angriffen „ihn beschimpfen, bedrohen“ etc.. Ich halte sie körperlich davon ab und sage ihnen das auch so.

Das hilft auch mir, klar zu bleiben, was ich hier tue; und was nicht! Es hilft mir als auch, nicht die alten Worte, Drohungen, Zurechtweisungen etc. zu wiederholen, sondern neue Muster und eine neue Sprache einzuüben.

Beschreiben hilft hier auch, große Gefühle beim Namen zu nennen: „Du hast jetzt so eine Wut auf ihn, dass du ihn am liebsten schlagen würdest“. Beschreiben gibt den jungen Kindern Namen für die Gefühle, die sie gerade überwältigen, bzw. macht sie ihnen bewusst. Im Laufe der Zeit können sie sie selbst erkennen und etwas zähmen lernen – gemäß dem wunderbaren Leitsatz „name it and you‘ll tame it!“.

Schließlich kann ich auch meine eigenen Gefühle und ihre Dynamik beschreiben und sie damit etwas unter Kontrolle bringen: „Und ich muss jetzt auch aufpassen, dass ich nichts Blödes sage und niemandem weh tue, denn ich bin jetzt auch ganz schön aufgeregt / wütend …“.

Praxisbeispiel: Knifflige Eltern-Kind-Situationen

Wenn wir Eltern und Kinder gleichzeitig begleiten müssen/dürfen, kommt es oft zu kniffligen Situationen z.B. wenn bei Bring- oder Abholsituationen auch bei den Eltern die Nerven blank liegen. Auch hier ist das Beschreiben ein faszinierender Weg: „Du möchtest gern, dass Mama dableibt. Mama möchte auch, dass es dir gut geht, und möchte dich nicht gerne traurig hier zurücklassen. Und doch muss sie jetzt in die Arbeit gehen und jetzt wird sie auch ungeduldig.“

Oder, wenn Papa Stress kriegt und das Kind blöd anredet oder laut wird: „Der Papa hat jetzt richtig Stress, der müsste schon lange in der Arbeit sein, und jetzt hat er keine Geduld mehr. Und Dir geht es jetzt zu schnell, du bräuchtest den Papa noch, stimmt‘s?“

Beschreiben hilft, Kind und Eltern beide Seiten zu sehen, und zu erreichen, dass beide Seiten sich auch gesehen bzw. „gefühlt fühlen“ (Daniel Siegel).

Beschreiben braucht Achtsamkeit

Und so gibt es im Alltag viele ganz unterschiedliche Situationen, in denen sich die hohe Kunst des Beschreibens üben lässt. Beschreiben braucht ein gewisses Maß an Wahrnehmungsfähigkeit und damit schon Achtsamkeit; gleichzeitig fördert es diese: Wenn wir Beschreiben wollen, müssen wir schauen, spüren, hören, was los ist, wir trainieren unsere Wahrnehmungsfähigkeit.

Beschreiben ist insofern jedenfalls eine Spur, aus den alten Mustern des Erziehens, Drohens, Schimpfens und Moralisierens auszusteigen und nicht „netter“ zu sein, sondern tatsächlich achtsam: Wahrnehmen, was ist, ohne zu urteilen, ohne zu erziehen. Intervenieren, ohne die alten Muster von Drohung und Maßregeln.

Steve Heitzer

 

[1] Steve Heitzer, Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit, S.117-119.

 

Weitere Informationen

Podcast mit Steve Heitzer zum Praxisbeispiel „Noel stört“.

Buchtipp:

Buch für Eltern: Weisheit und Wertschätzung

Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.

Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im  Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Beobachten: Aridula / photocase.de
  • Steve Heitzer: Sebastian Schieder