Wir glauben, wenn wir nett genug wären, wären auch die Kinder nett. Wir glauben, wenn wir alles erklären, dann gäbe es keine Konflikte. Wir glauben, wenn wir uns nur alle bemühen würden, dann gäbe es keine Schwierigkeiten, keine Tränen und keine Wutausbrüche. Kein Du blöder Papa! oder Du blöde Mama!
Eine herausfordernde Situation, die ich als Erzieher oft erlebe: Manchmal tun sich Kinder im Kindergarten einfach schwer, sich von ihren Eltern zu lösen. Das Kind weint, die Eltern stehen unter Druck: Sie müssen weg, sie leiden mit ihrem Kind und haben vielleicht ein schlechtes Gewissen. Nettsein hilft hier nicht weiter.
Gefühle zeigen statt Nettsein?
Was hilft, ist, wenn alle ihre Gefühle haben und zeigen dürfen. Und wenn wir sie hellwach in den Blick nehmen, und am besten beschreiben lernen. „Du bist traurig, weil du gerne bei mir sein möchtest. Und mir fällt es auch schwer jetzt zu gehen.“
Wenn wir hier nicht hellwach sind, kann unser Druck dazu führen, dass wir alle Traurigkeit mit Nettsein schnell wegmachen wollen, indem wir die Kinder z.B. weglocken, vertrösten, ablenken: „Schau schnell, wo deine Freundinnen sind, die warten schon auf dich!“
Hier achtsam und hellwach zu sein bedeutet: weder zu ignorieren, bagatellisieren noch dramatisieren. Nicht mehr draus machen, als ist. Und nicht weniger. Aber zuzulassen, was ist: den Schmerz, die Traurigkeit, die Trennung.
Keiner muss schuld sein: „Jetzt mach nicht so ein Theater!“ oder umgekehrt: „Ich bin eine schlechte Mutter, weil ich mein Kind alleine lasse.“ Oder: „Was ist denn schon wieder los, wieso magst du nicht gehen? Wer war denn schon wieder böse zu dir?“
Wir können lernen, unseren Gefühlen zu vertrauen, ohne uns von ihnen reiten zu lassen. Gefühle wahrnehmen, zulassen und mit ein bisschen Abstand unsere Schlüsse daraus ziehen – das ist eine hohe Kunst, für die wir unser ganze Leben brauchen.
Kinder tun sich viel leichter, wenn sie nicht nett sein müssen, sondern sie selbst sein dürfen. Wenn sie traurig sein dürfen, sich auch über uns ärgern und sich gegen unsere Macht wehren dürfen. Kinder brauchen Erwachsene, die es aushalten, wenn sie ihre Ohnmacht, Wut und Ärger zum Ausdruck bringen. Dazu schrieb Thea Unteregger einmal diese wertvolle Einsicht:
„Als ich Mutter wurde, passierte mir das, was allen Eltern widerfährt. Irgendwann begann meine süße kleine Tochter mich anzuschreien und zu beschimpfen. Nach meinem ersten Schrecken erinnerte ich mich […]: Ich bin an der Macht, sie nicht. Sie darf versuchen, mich zu beschimpfen, denn sie ist hier die Unterlegene, und sie darf ihrer Wut Ausdruck verleihen. Wenn sie meine Grenzen überschreitet, kann ich ihr Einhalt gebieten, umgekehrt ist es weit schwieriger. Ich konnte so mit den vermeintlichen Angriffen meiner Tochter viel gelassener umgehen.“ (in der Zeitschrift: Mit Kindern wachsen, 04/2021, S.5)
An den Herausforderungen wachsen
Wer um jeden Preis nett sein will, traut den Menschen keine Herausforderungen zu. Wir können dem Kind die Herausforderung zutrauen, den Abschied von den Eltern zu schaffen und es gut dabei begleiten. Wir können uns selbst zutrauen, mit den Gefühlen von Sorge oder Schuld klarzukommen und die Herausforderung anzunehmen.
„Nettsein“ heißt den anderen keine Schwierigkeiten machen? Das Kind soll „nett sein“ und beim Abschied keinen Stress machen. Pädagog:innen sollten alles perfekt im Blick haben machen und dem Kind das Ankommen nett gestalten. Und die Eltern verstehen unter „nett sein müssen“, dass sie alles richtig machen und sich so verhalten, dass ihr Kind keine Schwierigkeiten hat und nicht in Widerstand geht.
Dieses Nettsein von allen zu erwarten, ist aber illusorisch. Und weil wir das nicht wahrhaben wollen und glauben, dass wir uns nur noch mehr anstrengen müssen, damit es funktioniert, leiden wir. Dieses Leiden können wir kaum ertragen und tappen in eine weitere Falle: Jemand muss schuld sein. Eine hartnäckige Vermeidungsstrategie von uns Erwachsenen.
Die Suche nach dem Schuldigen
Ich vermute einen weit verbreiteten Trugschluss: Wenn alle nett sind, „achtsam“ sind und gut aufeinander aufpassen, geht es den Kindern gut. Umkehrschluss: Wenn es dem Kind nicht gut geht oder es auch nur traurig ist, ist jemand nicht nett gewesen. Dann hat jemand nicht gut genug aufgepasst, war jemand nicht achtsam genug.
Es war und ist für mich immer wieder erschütternd zu beobachten, wie stark dieses Muster ist, einen Schuldigen zu suchen anstatt nach den Ursachen. Die Eltern glauben vielleicht, irgendwer muss doch schuld daran sein, dass es meinem Kind gerade nicht so gut geht, die Pädagog:in oder ein schwieriges Kind im Kindergarten. Und die Pädagog:innen denken nicht selten auch, die Eltern seien schuld. Die Erfahrung zeigt: Das bringt uns nicht weiter!
Es braucht den nüchternen Blick auf das Leben: Es gibt Störungen, es gibt Schwierigkeiten, es gibt Dinge, die wir nicht mögen. Und es muss nicht mal jemand daran schuld sein.
Was uns weiterbringt, ist gemeinsam hinzuschauen; uns Zeit nehmen, um der Situation eines Kindes Aufmerksamkeit zu schenken, und gemeinsam in den Blick zu nehmen, was es belastet, wo die Herausforderungen liegen – und alles in einer möglichst nicht urteilenden Haltung. Das ist im Wesentlichen auch, was Achtsamkeit als moderne, ich nenne es jetzt einfach „spirituelle“ Praxis auch bedeutet.
Wenn Nettsein manipulativ wird
Nettsein hält aus meiner Sicht eine Illusion aufrecht. Es ist oft der Versuch, Schwierigkeiten zu überspielen und Konflikten auszuweichen. Nett sein zu wollen führt manchmal zu einer oberflächliche und bisweilen sogar moralischen und manipulativen Art der Kommunikation.
Wer nett sein will, meint oft auch, wir müssten und könnten Kindern alles erklären. Es ist als ob wir erwarten würden, die Kinder hätten es irgendwann verstanden und würden sagen: „Ich hab‘s verstanden, Papa, du hast völlig Recht!“ So sinnvoll und schön es ist, wenn wir unseren Kindern etwas erklären, wir dürfen nicht erwarten, dass wir damit um die Schwierigkeit herumkommen, Entscheidungen zu treffen, die die Erwachsenen treffen müssen. Der Buhmann sein eben: Entscheidungen treffen, für die wir nicht geliebt werden.
Freundlich sein, gelassen und gütig, gewaltlos, arglos und gleichzeitig klar und mit voller Verantwortung als Erwachsene – das ist etwas ganz anderes, und es geht viel tiefer. Und es braucht viel, viel Übung im Hellwach – wie ich es gern nenne. Also nicht, indem wir ständig an uns herumwerkeln, sondern indem wir immer wieder aufwachen zum gegenwärtigen Moment – ob er uns gefällt oder nicht.
Fazit: Nur Mut!
Vertraue deinen Gefühlen und den Gefühlen deiner Kinder. Kinder brauchen authentische Eltern. Sie tun sich leichter, wenn sie Eltern haben, die nicht nett, sondern echt sind. Und wir tun uns leichter, wenn wir auch Gefühle haben dürfen.
Selbst wenn ich mich daneben benehme, ich kann mich immer entschuldigen und zeigen, dass wir alle noch lernen können mit unseren Gefühlen gut umzugehen. Authentisch zu sein, und unsere Gefühle nicht zu verbergen, und gleichzeitig auch Abstand zu ihnen zu gewinnen, uns nicht von ihnen überwältigen zu lassen und andere dabei verletzen.
Unsere Beziehungsarbeit bleibt die wichtigste Aufgabe mit den Kindern. Und sie geht nicht ohne die innere Arbeit des Hellwach-Seins, der Achtsamkeit.
Steve Heitzer
Weitere Informationen
„Achtsamkeit kann zu einem unerreichbaren Ideal werden. Steve Heitzer zeigt uns drei vermeidbare Achtsamkeits-Fallen. Und ermutigt Eltern: Achtsamkeit heißt echt zu sein, nicht perfekt.“ Lesen Sie hier Heile Welt mit Achtsamkeit?
Hier finden Sie Steve Heitzers Buch:
Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.
Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.