Das Gespräch führte Sarina Hassine.
Sie sind Lernbegleiterin, Psychologin, Familientherapeutin und Mutter dreier Kinder. Was war Ihre Moitivation in Schulen zu arbeiten?
Johanna Etzold: Ich habe während des Psychologie-Studiums Schulpraktika gemacht und irgendwann gemerkt: Ich möchte, dass Schule anders geht. Ich wollte eine Schule gründen, weil ich will, dass wir Erwachsene anders mit Kindern umgehen. Und weil Lernen anders funktioniert. Dann habe ich eine Montessori-Ausbildung gemacht und mich mit reformpädagogischen Ansätzen beschäftigt, bis dann jemand auf mich zukam und sagte, in Pankow wird eine Schule gegründet. Und dann war ich da.
Sie haben viele Jahre an dieser freien Schule gearbeitet. Welche Momente im Schulalltag haben Sie besonders genossen?
Etzold: Für mich war es wichtig, diese Schule mitgestalten zu können und Selbstwirksamkeit zu spüren: dass ich Dinge verändern kann, dass ich Impulse aufnehmen und weitergeben kann, dass nichts zu starr ist.
Mit den Kindern ist mir die Beziehungsebene immer wichtiger geworden: Ich hab‘ mit meinen Schüler*innen jeden Freitag 10 Minuten „Kindergespräche“ gehabt. Nach so einem Tag bin ich ganz erfüllt nach Hause gefahren. Ich war bei den Kindern, ich war bei mir, ich habe einen Kontakt gespürt.
Eine andere Sache, die ich sehr genossen habe, war, wenn ich mit den Kindern den Bodyscan gemacht habe – diese Übung in meine Arbeit zu integrieren und zu merken, wie gut es den Kindern tut, war für mich und die Kinder sehr wertvoll.
Außerdem fand ich immer toll, Projekte mit den Kinder zu machen. Wenn sie Dinge selbst erleben, selbst auf die Beine stellen. Meine Sechstklässler haben ihre Abschlussfahrt zum Beispiel selbst organisiert. Kinder darin zu unterstützen, dass sie in ihre Verantwortung gehen und ihre Selbstwirksamkeit spüren, das ist mir wichtig.
Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass dieser Beziehungsansatz in Schule verankert werden muss.
Sie haben die Schule 2022 verlassen und arbeiten jetzt als Referentin an verschiedenen Schulen. Warum?
Etzold: Ich möchte einen Schritt weitergehen. Ich gebe Workshops und Studientage, am liebsten will ich auch in die Lehrkräfte-Ausbildung. Ich will, dass sich die Ausbildung ändert und Beziehungskompetenz eine wichtige Säule wird. Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass dieser Beziehungsansatz in Schule verankert werden muss. Wenn wir hier Veränderungen schaffen, kann es etwas in der ganzen Gesellschaft bewegen.
Sie haben eben den Bodyscan erwähnt – wie stehen Sie zum Thema Achtsamkeit und ist das Ihrer Meinung nach ein Begriff, mit dem man gut „in Schule reinkommt“?
Etzold: Ich wohne in Berlin-Prenzlauer Berg und hier wird der Achtsamkeitsbegriff inflationär benutzt: An jeder Ecke findet man den neuesten, hippen Mindfulness-Space. Das ist so eine Modeerscheinung, da wird etwas zelebriert. Das ist total anstrengend. Aber am Ende ist Achtsamkeit ja ganz wichtig! Es ist die Basis von allem: bei sich selbst zu sein.
Der dänische Philosoph Jes Bertelsen, der dem „Empathie macht Schule“- Projekt teilweise zugrunde liegt, sagt, dass der Mensch mit fünf natürlichen Grundkompetenzen auf die Welt kommt: Atem, Körper, Herz, Kreativität und Bewusstsein. Also braucht es eigentlich nur eine Aktivierung unserer Natürlichkeit.
Wie auch immer wir es jetzt nennen, es ist die Grundvoraussetzung, um bei sich sein zu können, um in Beziehung gehen zu können und um Dinge zu verändern. Und in meinem Leben ist es immer wichtiger geworden. Ich habe früher Yoga gemacht und das Shavasana [die Schlussentspannung] ganz oft weggelassen. Stück für Stück bin ich mehr dazu gekommen, Achtsamkeit in mein Leben zu integrieren.
Es ist schwierig, wenn man etwas übergestülpt und gesagt bekommt: So, jetzt meditiert mal.
Ich kann die Vorbehalte von Schulen gegenüber Achtsamkeit ein wenig nachvollziehen. Vor allem ist es schwierig, wenn man etwas übergestülpt und gesagt bekommt: So, jetzt meditiert mal. Am Ende muss man es selbst erfahren und schauen, was macht es mit mir, wie verändert es mein Leben.
Verwenden Sie selbst den Begriff Achtsamkeit in Schulen?
Etzold: Das Wort benutze ich tatsächlich eher selten in meiner Arbeit mit den Lehrkräften. Ich integriere aber Achtsamkeitsübungen. Der Alltag an der Schule ist echt herausfordernd. Immerzu will jemand etwas von dir, ist dein Nervensystem am Anschlag. Mit Lehrkräften ist mein Einstieg oft die Selbstfürsorge. Ich vermittle ihnen, „es geht nicht darum, dass ihr etwas besser machen sollt. Ihr dürft euch um euch selbst kümmern, denn ihr sorgt nur dann gut für andere, wenn ihr gut für euch selbst sorgt.“
Manchmal gibt es natürlich Widerstand, wenn ich sage „spürt mal in eure Füße“. Aber es ist dann gut, das anzuschauen und unterschiedliche Wege zu suchen, um etwas näher zu bringen und dabei niemanden zu überfordern.
Das alles ist oft ein langer Weg. Das weiß ich von mir selbst auch. Ich habe die Werte von Jesper Juul 20.000-mal gehört, bis ich es erfahren habe und jetzt immer mal wieder anwenden kann. Und selbst jetzt bin ich nicht am Ende, sondern mitten im Prozess. Oft genug fahre ich aus der Haut. So ist das.
Wie geht es Ihnen damit, dass die Prozesse in Schule oft so langsam sind?
Etzold: Meistens ist das Glas bei mir halbvoll. Da habe ich Glück gehabt, so bin ich vermutlich geboren worden. In meiner Arbeit gibt es viele Leute, die mir Rückmeldungen geben und sagen, das, was wir heute erlebt haben, das hat etwas mit mir gemacht. Um mich herum haben viele Menschen diesen Weg angefangen.
Und ja, das dauert. Aber ich weiß, wenn ich es schaffe, bei ein paar Menschen so einen Impuls zu setzen und die merken dann: Ich bin verantwortlich für mein Leben, für das, was ich mache, wie ich da bin. Dann freue ich mich tatsächlich darüber.
Ungeduldig bin ich mitunter auch. Dann habe ich das Gefühl, dass ich die Veränderung nicht sehe. Es reicht meiner Meinung nach auch nicht, einmal im Jahr einen Studientag zum Thema Beziehung durchzuführen, es braucht eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema.
„Empathie macht Schule“ ist nicht etwas, bei dem einzelne zu einer Fortbildung gehen, sondern bei dem alle an einem Strang ziehen.
Sie sind Referentin des Projekts „Empathie macht Schule“, das unter der Leitung von Christine Ordnung und Helle Jensen 2020 in Berlin gestartet ist. Welche Elemente sind für sie besonders und innovativ?
Etzold: Erstmal finde ich es ganz wichtig, dass es ein Projekt für die ganze Schule ist. Vom Hausmeister über die Sekretärin, die Erzieher*innen, Schulleitung und Lehrkräfte, alle können teilnehmen. Dieses Projekt ist nicht etwas, bei dem einzelne zu einer Fortbildung gehen, sondern bei dem alle an einem Strang ziehen.
Dann finde ich wichtig, dass beim Einstieg der Fokus auf einem selbst liegt: Bei mir selbst anzufangen.
Die Grundlage des Projektes ist: Kein Lernen ohne Beziehung. Entwicklung braucht Beziehung. Neben dem Fach, das wichtig ist für die Kinder, ist da ein Mensch, zu dem sie eine Beziehung haben. Und als Erwachsene sind wir dafür verantwortlich und es ist unsere Aufgabe, uns darum zu kümmern. Das ist der neue Blick. Und wir bekommen viel zurückgemeldet von Erzieher*innen und Lehrkräften, dass Beziehungskompetenz in ihrer Ausbildung keine Rolle gespielt hat.
Widerstände sind ok. Jeder hat seinen Grund, warum er heute etwas machen kann oder eben nicht.
Sie führen das Projekt an drei Schulen durch. Wie nehmen die das Programm an?
Etzold: Wir setzen die Impulse mit dem Wunsch, dass die Schulen es weiterführen. Das braucht Zeit und Kraft. Und es braucht ein Netzwerk. Ich glaube, die Schulen haben in unterschiedlichem Maße die Ressourcen, sich darum zu kümmern, wie es weitergehen kann. Wir vom Projekt haben den Samen gesät und jetzt muss er gewässert werden.
Gibt es auch Widerstände?
Etzold: Für die Pädagog*innen war es wichtig, dass die Übungen während der Workshops auf freiwilliger Basis waren. Dadurch, dass es diese Freiwilligkeit gegeben hat, haben sich die meisten auch darauf eingelassen. Und es ist die Frage, wie gehe ich als Referentin damit um, dass manche nicht mitmachen möchten? Da habe ich viel von Helle und Christine gelernt. Widerstände sind ok. Jeder hat seinen Grund, warum er heute etwas machen kann oder eben nicht.
Das weiß ich aus der Arbeit mit den Kindern auch. Manche sagen, Du Johanna, den Bodyscan, das halte ich nicht aus. Dann ist es so ruhig in mir. Das geht nicht. Dann zu sagen: ja ok oder zu fragen, wie kommt es dazu, dann vielleicht beim nächsten Mal… Ich selbst habe für diese Übung lange gebraucht.
Aber zu sehen, dass inzwischen viele unserer Lehrkräfte das mit den Kindern selbst anleiten und die Kinder diese Körperübung an allen diesen drei Schulen kennenlernen – das ist doch toll!
Wenn wir den Stress nicht mehr hätten, beurteilen zu müssen! Dann würde sich viel verändern, glaube ich.
Die Strukturen in Schule sind ja sehr fest. Kann so ein Projekt funktionieren und Schulen transformieren? Gibt es auch Aspekte an dem Projekt, die Sie anders machen würden?
Etzold: Ja, die Strukturen… Ich höre so oft, wir haben keine Zeit, wir haben keine Zeit… Ich würde es genauso wieder machen: Über einen Zeitraum, diese 3-Tage-Module über anderthalb Jahre und danach zweimal im Jahr nochmal Impulse und Supervision geben. Es wäre toll für alle Schulen, wenn sie an so einem Projekt teilnehmen könnten. Ich würde das so wieder machen. Auch mit dem Wissen, dass es lange dauert.
Gut ist es, wenn Kollegien dann schauen, wo braucht es mehr Pausen, wo nehmen wir Druck raus. Und ganz wichtig: Wie gehen wir mit Beurteilungen um. Zensuren abschaffen! Wenn wir den Stress nicht mehr hätten, beurteilen zu müssen! Dann würde sich viel verändern, glaube ich. Und vielleicht kommen wir da irgendwann mal hin, das ist ja nicht auszuschließen.
Ich glaube, das ist etwas, das uns immer wieder gelungen ist in dem Projekt, dass die Menschen die Erfahrung gemacht haben, wie gut es ist, nicht bewertet zu werden, angenommen zu werden, ernst genommen zu werden, so wie man ist mit seinem „kann ich nicht“ oder „will ich nicht“. Ich glaube, wenn Menschen merken, wie gut ihnen das tut und wie dann Wachstum möglich wird, bringen sie es auch in ihren Alltag.
Mit Schulleitungen zu arbeiten und sie zu unterstützen, wäre äußerst sinnvoll.
Solche Projekte sind ja leider recht kostspielig und noch sehr selten. Wenn man nicht das Glück hat bei „Empathie macht Schule“ dabei zu sein: Was würden Sie einer interessierten Schulleitung als erste wirkungsvolle Steps empfehlen?
Etzold: Ich glaube, dass die Schulleiter*innen erst einmal anders mit ihren Kolleg*innen umgehen müssen. „Persönliche Sprache“ zwischen Schulleitung und Lehrkraft zu lernen, wäre sehr hilfreich. Oder zu lernen, wie man sich gegenseitig Feedback gibt. Auf der Ebene können Leitungen aktiv werden: Dass sie die Verantwortung übernehmen für die Beziehung zu ihren Mitarbeiter*innen.
Ich glaube, viele Schulleiter*innen sind damit überfordert, in Führung zu gehen. Auf der Ebene muss sich etwas verändern, damit sich im Nachfolgenden etwas verändern kann. Hier mit Leitungen zu arbeiten und sie zu unterstützen, wäre äußerst sinnvoll. Fangt bei euch selbst an, würde ich Schulleitungen sagen, sorgt für euch selbst. Wenn wir immer nur da unten bei den Kindern rumdoktern und nie bei uns, dann wird sich nichts verändern.
Und: Schafft die Zensuren ab. Und die Stühle! Und ladet Fehler ein, lasst uns Fehler machen und ins Risiko gehen!
Danke für das Gespräch!
Johanna Etzold hat viele Jahre als Lernbegleiterin in der Freien Naturschule Berlin Pankow gearbeitet. Die Arbeit von Jesper Juul und seine Sicht auf den Menschen und Beziehung hat ihr Sein in der Schule maßgeblich beeinflusst. Johanna ist studierte Psychologin und ausgebildet als Familientherapeutin am Deutsch Dänischen Institut für Familientherapie. Sie ist Referentin im Projekt Empathie macht Schule und arbeitet seit dem Sommer 2022 als Familienberaterin, Supervisorin und Referentin.
Hier finden Sie alle unsere Beiträge über das Projekt Empathie macht Schule.