„Das war die nachhaltigste Weiterbildung, die ich machen konnte“

MoMento Swiss ist eine gemeinnützige Organisation in der Schweiz, die Lehr- und Fachkräfte in Achtsamkeit schult. Stefanie Uhrig hat mit dem Geschäftsführer und pädagogischen Leiter Matthias Rüst über die Ziele und Hintergründe gesprochen.

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Das Gespräch führte Stefanie Uhrig.

MoMento Swiss wurde 2017 gegründet und hat laut eigenen Angaben bereits rund 600 Lehrkräfte und Fachpersonen ausgebildet – was genau ist dabei das Ziel?

Matthias Rüst: Ganz allgemein gesagt, möchten wir ein Gefühl des Wohlbefindens, der Verbundenheit, des Mitgefühls und des Zusammenhalts fördern. Um das zu erreichen, haben wir uns gefragt: Wie können wir eine Schule darin unterstützen, ihren Schülerinnen und Schülern diese Verbundenheit nahezubringen? In unserem derzeitigen Schulsystem steht meist noch das Fachwissen im Zentrum. Das ist natürlich auch wichtig, aber wenn Lehrende das reine Wissen ohne eine persönliche Beziehung zu den Kindern vermitteln wollen, kommt wenig davon wirklich an.

Wir setzen also darauf, ein Schulklima zu schaffen, das auf Verständnis beruht und die verschiedenen Lebenskompetenzen einschließt, anstatt nur auf Leistung zu pochen. Von klein auf gedacht: Es geht darum, jede einzelne Person zu stärken, damit sie dann eher in der Lage ist, sich mit anderen zu verbinden, bis hin zum Klassenverband und der ganzen Schule. Langfristig ist die Hoffnung, dass sich sogar das Schulsystem ändern könnte – etwa dadurch, dass Achtsamkeit schon an den pädagogischen Hochschulen viel mehr verankert wird.

Das Beste, was den Schüler*innen passieren kann, ist eine Lehrkraft, die authentisch und „mit gefüllten Batterien“ ganz für sie da sein kann.

Wenn es letztendlich um die Kinder geht: Warum nicht gleich mit Schülerinnen und Schülern arbeiten?

Rüst: Das wäre weniger effektiv und kaum nachhaltig. Die Kinder verbringen viele Stunden in der Schule. Würden wir beispielsweise als Externe eine Stunde pro Woche Achtsamkeit mit ihnen trainieren, wäre das wie eine kleine Insel. Darum herum bliebe alles gleich. Helfen wir stattdessen den Fachkräften, ein verständnisvolles und achtsames Miteinander in ihren Unterricht zu integrieren, profitieren die Kinder während ihrer gesamten Schulzeit davon.

Fast noch wichtiger ist jedoch unser Anliegen, auch die Lehrkräfte selbst zu unterstützen. Wir alle wissen, dass es heute unglaublich herausfordernd ist, Lehrkraft zu sein. Die Erwartungen von allen Seiten – auch von den Lehrkräften sich selbst gegenüber – sind sehr hoch. Mit dem Resultat, dass in der Schweiz ca. 20 – 30% von ihnen ausgebrannt sind. Und für die anderen 70-80% ist ein voller Schultag ja auch kein Zuckerschlecken.

Wir wollen deshalb unbedingt die Lehrkräfte selbst in ihren Lebenskompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Stressbewältigung und Selbstmitgefühl stärken. Und hier schließt sich der Kreis auch wieder, denn: Das Beste, was den Schülerinnen und Schülern überhaupt passieren kann, das ist eine Lehrkraft, die authentisch ist und „mit gefüllten Batterien“ voll und ganz für sie da sein kann.

Welche Übungen sind Teil der Programme?

Rüst: Wir gehen das mit unterschiedlichen Elementen an. Es gibt zum Beispiel formelle Praktiken, aber weniger und kürzere als etwa bei MBSR. Dazu kommen verschiedene informelle Aspekte: Wir machen sehr viele Spiele, über die wir Lebenskompetenz und Achtsamkeit vermitteln. Der Austausch zwischen den Lehrpersonen ist ebenfalls wichtig, dazu gibt es theoretische Inputs und Reflexionen, bei denen die Teilnehmenden mit geschlossenen Augen über bestimmte Fragen nachdenken, aber nicht im eigentlichen Sinne meditieren.

Spielen digitale Medien dabei auch eine Rolle?

Rüst: Eher indirekt. Wir haben digitale Audio-Aufnahmen für die Praktiken, die auch über eine App verfügbar sind – viele davon auf Schweizerdeutsch, ein paar auf Deutsch. Das sind keine ausgefeilten Sammlungen, sondern einfache Praktiken, die wir zuhause oder während einer Trainingseinheit mit dem Handy aufgenommen haben. So können wir sie nach dem Training an die Lehrkräfte schicken oder sie auf die App hinweisen, und sie haben Material zum Weiterüben.

Außerdem bieten wir auch Online-Kurse an, damit Menschen die Möglichkeit einer Teilnahme haben, in deren Nähe es keinen MoMento-Präsenzkurs gibt.

Wie funktioniert so ein Achtsamkeitstraining vor dem Bildschirm?

Rüst: Es gibt natürlich eine Verschiebung der Schwerpunkte. Wir haben ein paar Spiele, die gut über das Internet funktionieren. Das sind Tandemspiele, die keinen Körperkontakt beinhalten. In Präsenzkursen machen wir noch viel mehr Spiele, dafür ist online Zeit für längere Praktiken. Zuhause können sich die Leute gut und angenehm hinlegen und entspannen. Vor Ort sind manchmal keine Matten vorhanden und wir müssen alles im Sitzen machen, da halten wir solche Einheiten eher kürzer. Es gibt also jeweils Vor- und Nachteile.
Kurse für Fortgeschrittene bieten wir online allerdings nicht an, da ist der Fokus zu sehr auf den spielerischen und interaktiven Elementen.

Wie finden euch Interessierte und wer darf überhaupt mitmachen?

Rüst: Grundsätzlich haben wir zwei Angebote. Es gibt offene Kurse, zu denen sich Lehrpersonen selbst einschreiben können. In der Schweiz haben Lehrkräfte ein Kontingent an Weiterbildungen, die sie machen dürfen und die sie über die Schule abrechnen können. So können sich Interessierte recht problemlos online bei uns anmelden.

Zusätzlich bieten wir aber auch schulinterne Trainings an, wenn eine ganze Gruppe mitmachen möchte. Meistens fragen dabei die Schulen uns an – im Internet sind wir leicht zu finden. Manchmal läuft das zudem über persönliche Kontakte ab, wenn jemand von uns gut mit Schulpersonal befreundet ist und einfach mal nachfragt, ob Interesse besteht.

Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Erlernen von immer mehr Techniken.

Wie wird das Programm in der Schweiz aufgenommen?

Rüst: Sehr gut – wir führen durchschnittlich 12 bis 15 Kurse pro Jahr durch. Das ist schon beträchtlich. Natürlich könnten es mehr sein, aber dann hätten wir gar nicht genug Kapazitäten. In jedem Fall kommt es gut bei den Leuten an. Das wissen wir aus Evaluationen, die wir immer wieder durchführen, und aus spontanen Rückmeldungen nach den Kursen. Wir haben schon mehrfach gehört: „Das war die nachhaltigste Weiterbildung, die ich machen konnte“. Zumal bei uns der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht das Erlernen von immer mehr Techniken. Das beeindruckt viele Teilnehmende.

Wie habt ihr das Konzept für MoMento überhaupt entwickelt?

Rüst: Das fing eigentlich schon 2012 an, als ich noch in Kolumbien gelebt habe. Damals begannen wir zu recherchieren, welche Programme es bereits gab. Besonders in den USA fanden wir viele Vorbilder, die entweder sozioemotionales Lernen förderten (beispielsweise PATHS, CASEL), Achtsamkeit direkt mit Kindern übten – wie Mindful Schools – oder achtsamkeitsbasierte Fortbildungen für Lehrkräfte anboten (etwa CARE for Teachers).

Für uns wurde schnell klar, dass wir ein integrierendes Programm entwickeln wollten, das mit den Kindern und Erwachsenen zusammenarbeitet. In der Schweiz haben wir dann 2017 mit der Planung begonnen und konnten viele der Erfahrungen aus den USA und Kolumbien nutzen. Trotzdem haben wir noch einmal analysiert, welche neuen Programme es mittlerweile gab. In das Konzept ist eine Menge Arbeit geflossen, so dass wir erst 2019 richtig mit den Trainings angefangen haben.

Eltern stehen oft genauso unter Druck wie das Lehrpersonal, nur dass sie nicht mal ein „Eltern- oder Erziehungsstudium“ hinter sich haben.

Und jetzt gibt es Pläne, das Repertoire auszuweiten?

Rüst: Genau. Die Kinder verbringen ja nicht nur viel Zeit in der Schule, sondern auch zuhause. Die meisten aus unserem Team sind ebenfalls Eltern und wissen, wie schwierig diese Rolle sein kann. Eltern stehen oft genauso unter Druck wie das Lehrpersonal, nur dass sie nicht mal ein „Eltern- oder Erziehungsstudium“ hinter sich haben. Irgendwie soll man mit der Geburt wissen, wie Elternschaft funktioniert.

Eigentlich war es schon immer unser Ziel, zusätzlich Kurse für Eltern oder Familien anzubieten. Dann ist uns aufgefallen, dass wir bereits sehr viel Material hatten, dass auch für solche Trainings passt. Wir mussten nur ein paar formale Dinge ändern – einleitende Worte und Ähnliches. Wichtig ist wieder, dass die Erwachsenen geschult werden, selbst wenn bei manchen Kursen die Kinder dabei sind. Wir haben zum Beispiel die Absicht, auch Ferienlager zu organisieren – aber nicht nur für Kinder, sondern für die ganze Familie. Auf diese Weise möchten wir einen achtsamen Alltag fördern.

Wie finanziert ihr euch, abgesehen von den Kursgebühren?

Rüst: Die Gebühren decken die Umsetzung, also die Kosten der einzelnen Kurse. Da wir aber auch Ressourcen für die Entwicklung benötigen, müssten wir die Teilnahme so teuer anbieten, dass es sich viele Leute oder Schulen nicht leisten könnten. Glücklicherweise bekommen wir Unterstützung von Stiftungen und einem staatlichen Programm zur Gesundheitsförderung. Außerdem haben wir Spielkartensätze entwickelt, mit denen man zuhause Achtsamkeitsspiele machen kann. Aus dem Verkauf kommt auch ein bisschen was zusammen. Mit diesen Einnahmen und der Unterstützung der Stiftungen können wir das Programm stetig ausbauen und weiterentwickeln.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Matthias Rüst ist Mitbegründer und Geschäftsführer von MoMento Swiss und BREATHE International. Er hat das kolumbianische Projekt „RESPIRA“ ins Leben gerufen und für den deutschsprachigen und internationalen Raum adaptiert. Matthias Rüst ist Direktor und Co-Autor der entstandenen vier achtsamkeitsbasierten Interventionsprogramme für Schulen (BREATHE in Education), Friedensbildung (BREATHE in Reconciliation), für Organisation und Firmen (BREATHE in Organisation) und für die Öffentlichkeit (BREATHE in Life). Er hat ein Masterstudium in Internationale Beziehungen mit Spezialisierung in Globalisierung und Bereich Menschenrechte. Des weiteren ist er MBSR-Lehrer.

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  • MoMento Schweiz: Endia Kneipp/ MoMento Schweiz