„Der Eichendorffschule gelingt es, den Schüler*innen, die von der Grundschule oftmals nur das Gefühl des Scheiterns kennen, die Angst vor Fehlern zu nehmen und ihnen wieder Freude am Lernen zu vermitteln“, so Prof. Dr. Thorsten Bohl, Bildungsforscher und Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. Dafür setzt die Schule unter anderem auf selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen. „Die Eichendorffschule hat in den vergangenen Jahren einen gebundenen Ganztagsbetrieb mit vielfältigen musischen, kulturellen, ökologischen und technischen Angeboten etabliert – eine Ausnahme in Bayern. … Gleichzeitig hat die Schule den Schulalltag neu rhythmisiert, die Stundentafel angepasst und die fachlichen und überfachlichen Angebote in den Blick genommen. Durch ihr pädagogisches Konzept biete die Schule eine anregende Lernumgebung, die insbesondere benachteiligten Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven eröffne, so Bohl.
Das Gespräch führte Janna Degener-Storr
Ihr Schulmotto ist „ICH DU WIR GEMEINSAM“. Was steckt dahinter und wie wird Gemeinschaft bei Ihnen gefördert?
Schülerin Kaja: Unser Schulmotto bedeutet vor allem, dass Lehrer und auch Schüler untereinander auf Augenhöhe kommunizieren. Jeder darf Fragen haben, sie werden beantwortet. Und wer Hilfe braucht, bekommt sie.
Schülerin Daniela: Es kommen also zum Beispiel in der Selbstlernzeit plötzlich Schüler zu dir, mit denen du vorher noch nicht so viel zu tun hattest, und bitten dich um Hilfe, weil sie etwas nicht verstanden haben. Ob man ein Junge oder ein Mädchen ist, das ist dann einfach egal. Wir bitten uns gegenseitig und helfen uns dann, das ist selbstverständlich und total schön.
Daniela: Es gibt auch regelmäßig Vollversammlungen, die von den Jahrgangsstufen geleitet werden. Da kommt die komplette Schule in der Aula zusammen und die Schüler tragen über ein bestimmtes Thema vor. Als wir den Deutschen Schulpreis gewonnen haben, waren wir alle in der Turnhalle und haben die Veranstaltung über die Leinwand mitverfolgt. Wir haben gemeinsam mitgefiebert. Das war richtig gut.
Unter den Lehrkräften findet Gemeinschaft dadurch statt, dass wir in Teams organisiert sind, die für eine gesamte Jahrgangsstufe zuständig sind.
Mathelehrer Andreas Flores Hänsch: Den Klassenrat halte ich auch für ein wichtiges Element der Gemeinschaftsförderung. Seitdem er im Stundenplan verankert ist, findet er regelmäßig statt. Das ist ein Forum, um sich innerhalb der Klasse auszutauschen. Im Idealfall auf Augenhöhe und basisdemokratisch. Und das, glaube ich, trägt wesentlich zum Zusammenhalt der Klasse bei.
Auf der Ebene der Lehrkräfte findet Gemeinschaft dadurch statt, dass wir in Teams organisiert sind, die für eine gesamte Jahrgangsstufe zuständig sind. Wir haben nicht diese Situation, dass man als Klassenlehrer oder als Fachlehrer alleine vor der Klasse steht oder allein zuständig ist. Das trägt wesentlich dazu bei, dass wir Lehrer eben nicht diese Einzelkämpfer sein müssen.
Haben Sie sich als Schule auf bestimmte Werte geeinigt oder wie wird das Miteinander geregelt?
Flores Hänsch: Wir haben die Schulhausordnung abgeschafft. Hier werden ja normalerweise alle Sachen aufgeschrieben, die man nicht darf. Auf den Gängen, auf dem Schulhof. Alles. Die Verbotsliste sozusagen. Jetzt wurde sie durch die Zusammenarbeit mit dem Verein KICKFAIR e.V. ersetzt durch sieben Kick-Fair-Werte, die ganz viel beinhalten. Das sind eigentlich nur sieben Sätze, sieben Hashtags, die aber einfach eine Aussage in sich tragen, die mehr Bedeutung hat. Es gibt den Satz „Raus aus den Ecken, jeder braucht Raum“.
Das bedeutet nicht nur, dass man nicht auf den Gängen herumrennt oder im Klassenzimmer die Stühle schmeißt, sondern dass jeder seinen Platz findet im Klassenzimmer, in der Schulgemeinschaft. Wir Lehrer besprechen diese Werte im Laufe der Zeit immer wieder mit der Klasse. Manche Lehrer machen es am Beginn des Schuljahres und sprechen in den ersten sieben Wochen jeweils eine Woche zu einem Hashtag. Das schafft eine Verbindung miteinander.
Der „Raum der Mathematik“, für den Sie u.a. auch diese Auszeichnung bekommen haben, ist eine digital unterstützte Lernumgebung, in der die Kinder der fünften und sechsten Klasse selbstständig lernen. Ab dem siebten Jahrgang arbeiten die Schüler*innen bei Ihnen in Lernbüros, in denen sie ihre individuellen Aufgaben mithilfe digitaler Technologie selbstständig abrufen. Wie funktioniert das selbständige Arbeiten mit gegenseitiger Unterstützung?
Flores Hänsch: Die Schülerinnen und Schüler kommen teilweise mit schlechten Leistungen aus den Grundschulen zu uns. Einige haben in Mathe Schwierigkeiten, andere in anderen Fächern. Weil aber jeder in seinem Tempo arbeiten kann, wird keiner vergessen und jeder bekommt die Aufmerksamkeit, die er braucht. Die Klasse muss nicht im Stoff mitgezogen werden. Wenn jemand mit einem Thema Schwierigkeiten hat, kann er es von unterschiedlichen Seiten angehen. Während der vielen Übungsphasen haben die Schüler die Möglichkeit, Dinge selbständig nachzuholen.
Die meisten kriegen das wirklich gut hin, wenn sie sich dafür entschieden haben. Sie wissen, dass sie für das Lernen selbst verantwortlich sind. Schüler und Lehrer können sich so ganz achtsam den Bedürfnissen der Einzelnen widmen. Das funktioniert so gut, weil die Lehrkräfte zum Beispiel den Raum der Mathematik und die Materialien darin in jahrelanger Arbeit im Team vorbereitet haben und immer weiterentwickeln.
Kaja: Wir starten in der fünften Klasse jede Unterrichtseinheit mit dem Kopfrechnen, das von uns Schülerinnen und Schülern organisiert wird. Dann bekommen wir ein Navi-Blatt, darauf stehen die Aufgaben, die wir bearbeiten sollen. Die Arbeitsblätter, die wir dafür brauchen, können wir uns selbständig aus den Schränken holen. Viele Themen werden auch bildlich dargestellt.
Daniela: Und wenn es um 3D-Körper geht, stehen im Raum riesige Gebilde aus Styropor oder Schaumstoff, die wir auch auseinandernehmen können, um uns zum Beispiel die Mantelflächen anzusehen.
Man entscheidet selbst, ob man alleine, im Team oder in einer Gruppe arbeiten will. Wir erklären uns gegenseitig viel und können zum Beispiel selbständig Powerpoint-Präsentationen für die ganze Klasse vorbereiten. Das ist toll und man freut sich drauf, wenn man selbst dran ist.
Wenn jemand etwas nicht gleich versteht oder nicht so gut kann, haben die anderen Verständnis. Wenn wir etwas geschafft haben, können wir einen Haken daran machen. Wir tragen immer in unser Logbuch ein, was wir an einem Tag gelernt haben. Und es gibt auch immer Feedbackgruppen.
Uns ist wichtig, das Lernen durch das Öffnen des Unterrichts in die Hand der Kinder zu geben, sie also wieder zum Subjekt ihres Lernens zu machen.
Ich erkenne hier Parallelen zum Konzept der Montessori-Pädagogik. Wo liegt der Unterschied?
Schulleiter Helmut Klemm: Eine der drei Fachkräfte, die im Raum der Mathematik tätig sind, hat ein Montessori-Diplom und wir greifen wichtige Elemente aus dieser Pädagogik auf, wie die vorbereitete Umgebung, die Handlungsorientierung und das Prinzip „Hilf mir, es selbst zu tun“.
Der größte Unterschied liegt darin, dass dieses pädagogische Prinzip an einer Montessori-Schule ganzheitlich gelebt wird, während wir fachdidaktische und methodische Elemente aus reformpädagogischen Bewegungen nutzen, um den Unterricht deutlich schülerorientierter und kindgerechter zu gestalten.
Beim Raum der Mathematik und in den Lernbüros ist uns wichtig, das Lernen durch das Öffnen des Unterrichts in die Hand der Kinder zu geben, sie also wieder zum Subjekt ihres Lernens zu machen. Dafür ist es notwendig, dass sie eigenverantwortlich agieren und sich organisieren. Wir haben mit Mitarbeitenden der Uni Jena, die uns fortgebildet haben, drei Gelingensfaktoren dafür erfahren. Einmal muss das Material hohe Ansprüche erfüllen, sich in hohem Maße selbst erklären, handlungsorientiert und differenziert sein.
Der zweite Gelingensfaktor sind die Strukturen. Die sind im Raum der Mathematik und auch in den Lernbüros sehr stark ausgeprägt. Wir reden da von pädagogischen und organisatorischen Leitplanken. Der Ablauf der Stunden hat bestimmte Rituale und wiederkehrende Elemente, die den Kindern Halt und Sicherheit geben.
Ein dritter Faktor ist, dass die Lehrkräfte weggehen müssen von der Rolle des Lehrenden. Ihre Aufgabe ist es vor allem, den Schülerinnen und Schülern über Lernhürden hinwegzuhelfen und bewusst Input zu geben, wenn sich bestimmte Inhalte nicht so gut selbsterklärend darstellen lassen.
Wie werden Schüler*innen im Raum der Mathematik Ängste vor Fehlern genommen?
Daniela: Manchmal haben wir das Gefühl, wir können etwas nicht. Aber im Raum der Mathematik wird klar gesagt, dass wir unsere Stärken haben und dass wir darauf aufbauen können. Das hilft gerade den jüngeren Schülern, nicht gleich aufzugeben, sondern daran zu glauben, dass sie schlau sind und etwas verstehen können.
Und das motiviert sie auch, wenn sie etwas mal nicht so gut können, sich Hilfe zu holen. Wenn man ein Thema erstmal verstanden hat, bekommt man auch echt Lust darauf, die Aufgaben zu lösen. Und dann kann man auch den anderen helfen, die noch Probleme damit haben.
Ein Schüler, der im System wahrscheinlich verloren gegangen wäre, hat eine Chance, wenn er als Individuum mit seinen Bedürfnissen gesehen wird.
Flores Hänsch: Es gibt so Sternstunden im Leben eines Lehrers: In meinem ersten Jahrgang gab es einen Schüler, der mit einer Sechs in Mathe aus der Grundschule kam. Mathe war für ihn ganz schlimm. In der angstfreien Umgebung hier hat er aber Motivation entwickelt, besser zu werden. Ausgerechnet im schwierigen Prozentrechnen schrieb er schließlich eine Eins und hatte in der siebten Klasse eine Drei auf dem Zeugnis.
Mathe ist sicherlich nicht seine Stärke, die liegt woanders. Aber er hat die Erfahrung gemacht, dass Mathe trotzdem möglich ist. Dieses Beispiel zeigt für mich: Ein Schüler, der sich im klassischen Matheunterricht weggeduckt hätte und so im System wahrscheinlich verloren gegangen wäre, hat eine Chance, wenn er als Individuum mit seinen Bedürfnissen gesehen wird.
Sie haben den Deutschen Schulpreis auch für andere Innovationen wie das „Projekt Herausforderung“ bekommen. Ist das in Anlehnung an die Initiative Schule im Aufbruch entstanden?
Klemm: Das „Projekt Herausforderungen“ haben wir uns bei der Evangelischen Schule Berlin Zentrum abgeguckt, als die „Schule im Aufbruch“-Initiatorin Margret Rasfeld dort noch Schulleiterin war. Lange Zeit ist es uns nicht gut gelungen, das Projekt gut umzusetzen, weil die rechtlichen Fragen in Bayern deutlicher komplizierter sind und nicht geklärt waren.
Seit dem letzten Schuljahr haben wir jetzt einen Träger gefunden, mit dem wir das „Projekt Herausforderung“ durchführen können. Jetzt müssen wir Schritt für Schritt die inhaltlichen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen, damit es gehaltvoll umgesetzt wird. Es ist ein sehr zartes Pflänzchen, das wachsen darf.
Welche Art von Herausforderungen sind es, die sich die Schüler*innen suchen?
Kaya: Wir haben mit einer Gruppe von fünf Mädchen eine Radtour nach Passau geplant und vorher zum Beispiel fremde Leute angerufen und gefragt, ob wir bei ihnen im Garten zelten können. Eine andere Gruppe hat zehn Tage im Wald verbracht in einem Shelter, das sie sich selbst gebaut haben.
Es gibt auch ein Fach, in dem es um Verantwortung und Engagement geht – was hat es damit auf sich?
Klemm: Wir haben das vor sechs Jahren begonnen. Bei dem Projekt geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler für eineinhalb Stunden in der Woche eine Verantwortung außerhalb der Schule übernehmen. Viele haben sich in der unmittelbaren Umgebung Stellen gesucht, zum Beispiel als Unterstützung im Kindergarten oder als Jugendtrainer in Sportvereinen.
Es gab auch Leute, die Einkaufshilfen gemacht haben für ältere Menschen oder die ins Tierheim gegangen sind. Und so hat dann im Idealfall jeder eine Stelle gefunden, wo er eineinhalb Stunden in der Woche einfach hilfreich war und sich eingesetzt hat für andere Menschen. Das Fach hat sich dann natürlich in den Pandemie-Jahren nicht so richtig etablieren können. Jetzt ist es wieder angelaufen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen
Mit dem Deutschen Schulpreis zeichnen die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung gute Schulen und ihre innovativen Schulkonzepte aus. Kooperationspartner sind die ARD und die ZEIT Verlagsgruppe. Aus dem Wettbewerb ist mittlerweile ein bundesweites Netzwerk von exzellenten Schulen, Schulpraktiker*innen und Bildungswissenschaftler*innen entstanden, die gemeinsam das Ziel verfolgen, die Schulentwicklung in Deutschland voranzutreiben.
Hier finden Sie mehr Informationen zum Deutschen Schulpreis.
Die Robert Bosch Stiftung betreibt auch das Online-Magazin Deutsches Schulportal, 2022 mit einigen Artikeln zum Thema Achtsamkeit.
Janna Degener-Storr arbeitet seit 15 Jahren als freie Journalistin und schreibt unter anderem über Achtsamkeitsthemen. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihren zwei Töchtern in Königs Wusterhausen bei Berlin. Sie praktiziert Yoga und hat schon als Kind gemeinsam mit ihrem Vater meditiert.