Foto Mutter und Kind Köpfe

„Empathie bedeutet Perspektivwechsel“

Familienberaterin Mona Kino spricht im Interview über Empathie. Diese sei keine sponane Gefühlsregung und nicht gleichzusetzen mit Altruismus. Empathie bedeute vor allem Einfühlungsvermögen und Perspektivwechsel.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das Interview führte Christina Raftery

Frage: Sind wir Menschen, die wir sympathisch finden, gleichzeitig empathisch verbunden?

Mona Kino: Es fällt uns sicherlich leichter als bei Menschen, deren Verhalten wir herausfordernd finden. Wenn wir jemanden nett finden, entdecken wir oft Gemeinsamkeiten. Dann können Mitleid und Mitgefühl schneller entstehen. Allerdings handelt es sich hier um Gefühle. Empathie ist aber eine Fähigkeit.

Frage: Was grenzt Empathie genau von Gefühlen ab?

Kino: Empathie ist keine spontane Regung. Sie bedeutet vor allem Einfühlungsvermögen und Perspektivenwechsel: Die Welt aus den Augen anderer sehen und nachempfinden zu können. Das kann ein wichtiger Schlüssel für gesellschaftliche Diskussionen sein, aber auch großen Aufschluss über uns selbst geben.

Haben wir Übung in Empathie, können wir dieses Einfühlen auch auf ein schwer zugängliches Gegenüber auszudehnen und ihm oder ihr aufrichtige Neugier und vorurteilsfreies Interesse entgegen bringen.

Frage: Haben Sie hier ein konkretes Beispiel?

Kino: Ja, aus meinem Empathie-Training am von Jesper Juul geprägten Deutsch-Dänischen Institut für Familientherapie (DDIF). In dieser Weiterbildung geht es um praktische Werkzeuge zur Entwicklung von Beziehungskompetenz und Achtsamkeit.

Ich bin gerade rat- und hilflos. Ich weiß nicht weiter, hast du eine Idee, was du von mir brauchst?

Eine Zeitlang gelang es mir einfach nicht, mit einer Kollegin, die mit mir Schwierigkeiten hatte, Kontakt aufzunehmen. Also wandten wir uns an die Hilfe unserer Ausbilderin Helle Jensen. Während eines Dialogs zwischen uns fragte sie mich immer wieder: Was passiert bei dir gerade? Etwa achtmal habe ich mich entschuldigt, der Kollegin gesagt, wie leid es mir tue, dass sie solche Schwierigkeiten mit mir hat und mich gewundert, weshalb das offenbar nicht die richtige Antwort auf Helles Frage war.

Die Rückmeldung aus dem Plenum lautete: Hier fehlt die Empathie. Ich war zu sehr bei der anderen, nicht bei mir. Ich war nicht in Kontakt, sondern außen vor. Da merkte ich: „Ich bin gerade rat- und hilflos. Ich weiß nicht weiter, hast du eine Idee, was du von mir brauchst?“ zu fragen ist viel persönlicher als „Es tut mir leid“.

Frage: Vieles spielt sich dabei im Kopf ab. Welche Rolle spielt der Körper?

Kino: Mit dem DDIF-Training wollte ich dem Begriff Empathie, der mich schon als Drehbuchautorin bei der Entwicklung meiner Figuren sehr beschäftigt hatte, weiter auf die Spur kommen. Da begegnete mir der Körper als wichtiger Bestandteil des unter anderem von Helle Jensen, Peter Høeg und Katinka Gøtzsche entwickelten „Pentagramms“.

Es enthält fünf Ausgangspunkte und gleichzeitig Wege, bei sich anzukommen: Bewusstsein, Herz, Kreativität, Atmung und eben Körper. Durch ihre wechselseitige Balance entsteht ein guter Ort, von dem aus wir uns anderen zuwenden können.

Meist ist jedoch mindestens ein Teil über- oder unterfordert. Das kann jeden Tag variieren, also können wir uns täglich neu fragen, wo wir stehen, in Resonanz gehen und den jeweiligen Anteil nachjustieren. Nicht im Sinne eines Defizits, sondern als guten Freund.

Wir können uns in andere nur so weit einfühlen wie in uns selbst.

Frage: Nach dessen Befinden wir uns ja auch regelmäßig erkundigen…

Kino: Hoffentlich mit aufrichtigem Interesse an der Antwort! Wichtig ist: Wir können uns in andere nur so weit einfühlen wie in uns selbst. In einem stressigem Umfeld kann kein Kontakt zu uns selbst entstehen.

Dann sind wir eher in der Reaktion und haben keine Zeit nachzuprüfen, was sich in Bezug zu unseren eigenen Werten richtig oder falsch anfühlt. Sind wir empathisch werten wir nicht, sondern stellen erstmal nur fest, was gerade ist: Ich sehe dich wütend. Dann fragen wir nach: Was macht dich wütend?

Frage: Welche Rolle spielt in Zeiten der Abstandsregeln die Verbundenheit? Durch die stark aufs Digitale reduzierten Begegnungen läuft gerade vieles etwas… anders.

Kino: Ja, so ist es: anders. Nicht besser oder schlechter.

Frage: Wie kann man empathisch bleiben, wenn die Energie des gemeinsamen Raumes wegfällt? Wenn sich jemand im Meeting stumm- oder wegschaltet, macht das meist etwas mit mir.

Kino: Dann kann die Frage lauten: Was brauche ich oder was brauchst du, dass wir uns gemeinsam im digitalen Raum begegnen können? Es sind ja nicht die digitalen Geräte, die das Problem sind, sondern unser Umgang mit ihnen.

Frage: Welche Bedeutung hat dieses digitale Setting für Empathie und Verbundenheit im Lernprozess, gerade bei Kindern und jungen Erwachsenen?

Kino: Wenn es ums Lernen geht, wird Verantwortung wichtig: Welche trage ich, wofür hat die Lehrkraft zu sorgen? Bei meiner 16jährigen Tochter habe ich große Unruhe beobachtet, als einmal der Server zusammen brach: Da war sie plötzlich nicht mehr „da“! Da hat sie es gebraucht zu hören, dass sie nicht in der „Bringschuld“ steht, dass niemand denkt, es sei ihre „Schuld“.

Natürlich läuft gerade vieles anders. Meine Kinder lernen gerade viel im Bett. Aber auch ich kann dort bestens schreiben! Als Elternteil lohnt es sich immer, auch die eigenen Angewohnheiten näher zu betrachten: Was sind unsere Ansprüche und Verantwortungen? Wofür können wir alle gemeinsam sorgen? Muss ich wirklich immer schick angezogen sein?

Statt meinen Kindern meine Struktur aufzudrängen, frage ich sie lieber, wie sie sich nach fünf Stunden im Bett fühlen. Statt „Kommt endlich an den Tisch!“ zu rufen, können wir auch ausprobieren, ob wir uns vielleicht fitter fühlen, wenn wir geduscht haben…

Frage: Ein „experimenteller“ Weg, der schon im Kleinkindalter beginnen kann.

Kino: Kinder können schon mit drei oder vier Jahren sagen: „Ich will Gummistiefel, aber keine Jacke!“ Wenn es aber immer jemanden gibt, der es besser weiß, bekommen sie kein Gefühl für sich selbst.

Frage: Dazu gibt es gefühlt tausende von Ratgebern. Wie ordnest du dein eigenes Buch „Zeit für Empathie“ ein?

Kino: Ich mag es, Eltern und denen, die es werden wollen, zu vermitteln, was es bedeutet, in der Familie Mensch zu sein. So enthält mein Buch einige Kurzgeschichten, die um Fragen und Facetten des Empathie-Begriffs gehen.

Ich möchte alle Eltern dazu einladen, so persönlich wie möglich zu sein und keine Rolle zu spielen.

Zu oft vermitteln mir Ratgeber eine Pädagogisierung der Elternschaft: Werdet zu besseren Pädagog:innen als Lehrkräfte! Nein. Ich möchte alle Eltern dazu einladen, so persönlich wie möglich zu sein und keine Rolle zu spielen.

Frage: Und den Begriff der Empathie vom Missverständnis der liebevollen Selbstaufgabe abkoppeln?

Kino: Das Geheimnis der Empathie besteht für mich darin, bei aller Zuwendung und Ablehnung zum Gegenüber immer wieder einen Schritt zurück treten und reflektieren zu können: Was ist gerade bei mir und damit bei uns beiden los?

Das ist nicht nur für Eltern, sondern auch für Pädagogi:innen sehr wichtig. Empathie ist kein Altruismus, keine Selbstaufgabe, auch kein Egoismus.

Für mich hat sich als Anker für ein ausgewogenes Miteinander ein Verhältnis 60:40 bewährt: Zu 60 Prozent bin ich bei mir, zu 40 Prozent bei anderen. Das klappt nicht immer, aber Yoga, Achtsamkeit und Meditation sind dabei Hilfsmittel, mich immer wieder einzunorden, mich nicht zu verlieren. Und wenn es doch passiert, es nicht zu bewerten.

 

Foto Mona KinoDie Autorin und Familientherapeutin ist ausgebildet u.a. bei Jesper Juul und ist  Teil der aus Dänemark stammenden Bewegung Training Empathy. Sie wirkt als Referentin beim AVE-geförderten Berliner Modellprojekt Empathie macht Schule mit. Mona Kino schreibt über Beziehungskompetenz und ein gutes Miteinander in Schule, Familie und Gesellschaft, u. a. die Kolumne »Frag mal Mona« bei www.socialmoms. de.

 

 

Weitere Informationen

Mona Kinos Buch „Zeit für Empathie“ ist 2020 im Beltz Verlag erschienen.

Empathie in der Familie

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Mutter und Kind: Nelson Martínez Photo. / photocase.de
  • Mona Kino: Florian Hoffmeister